DAVID
SZALAY
TURBULENZEN
Turbulente
Lektüre für Minimalisten
Der in Kanada geborene und in London
aufgewachsene Schriftsteller David Szalay hat sich für seinen
zweiten Roman mit dem Titel «Turbulenzen» ein Setting ausgedacht,
welches unwillkürlich an Schnitzlers ‹Reigen› erinnert. Der
Buchtitel weist auf die heftigen Wetterstörungen hin, die beim
Fliegen als unangenehme Begleiterscheinungen manchmal auftreten
können. Und so sind denn auch die zwölf Kapitel des Romans jeweils
an einen internationalen Flug geknüpft und mit den dreistelligen
Kurzbezeichnungen der internationalen Flughäfen überschrieben. Alle
Flüge zusammen absolviert würden eine Reise rund um die Welt
ergeben, die in London begänne und dort nach 12 Flügen auch endet.
Anders als bei Schnitzler sind die Figuren hier aber nur dadurch
lose verbunden, dass eine Nebenfigur ohne feste thematische Bezüge
im folgenden Kapitel zur Hauptfigur wird.
Auf dem unruhigen Flug LGW-MAD von London nach
Madrid erzählt eine Frau mit Flugangst ihrem Sitznachbarn, dass sie
in London ihren krebskranken Sohn besucht hat. Den senegalesischen
Sitznachbar erwartet bei seiner Ankunft in Dakar die Nachricht von
einem tragischen Unfall. Ein Frachtpilot erlebt in Dakar auf einer
Taxifahrt zum Flughafen, wie ein Junge von dem Taxi totgefahren
wird. Im Hotel angekommen, ruft er nach einigen Drinks nachts um
zwei Uhr eine Bekannte an. Die versucht, ihn nach einer Liebesnacht
möglichst schnell wieder los zu werden, sie hat als Journalistin
einen Interview-Termin, den sie nicht verpassen darf. Eine Mutter
besucht ihre Tochter, die gerade ein Kind geboren hat, das blind
ist. Ein indischer Golfspieler bestiehlt ohne jedes
Schuldbewusstsein den dementen Vater, die Tochter einer Auswanderin
will einen syrischen Flüchtling heiraten, mutmaßlich nur, um seine
Einbürgerung zu erzwingen. Eine Frau aus Budapest besucht ihren
sterbenskranken Vater in London, sie hat ihn viele Jahre lang nur
selten mal gesehen, und jetzt ist er dem Tode geweiht, aber sie
finden keinen Zugang mehr zueinander.
Es sind emotional labile Charaktere, denen
gemeinsam nur die seelischen und psychischen Turbulenzen sind, die
ihr Leben instabil machen, sie über die Maßen belasten. Wie die
Flugverbindungen sind auch die Verbindungen der Figuren
untereinander von Störungen bedroht, die ihre vermeintliche
Souveränität in Frage stellt und sie angreifbar und verletzlich
macht. Mit der originellen Struktur seines Plots ermöglicht der Autor
seinen Lesern tiefe Einblicke in das Leben seiner Figuren, die
einsam sind, mit Beziehungsproblemen kämpfen, sich mit Krankheit und
Tod auseinander setzen müssen, mit Unterdrückung und Betrug. Indem
er seine Schauplätze über alle Kontinente hinweg verteilt, macht er
seine Befunde zu globalen Problemen, die oft sogar erst durch die
schrankenlose Mobilität des modernen Menschen entstehen. Jeder ist
also gefordert, so die Botschaft, mit seinen eigenen Dämonen zu
kämpfen. Insoweit ist dieser schmale Band ein veritabler
Gesellschafts-Roman mit einer unverhohlen kritischen Note.
So kreativ das formale Konzept des Romans auch
erscheinen mag, so kontraproduktiv ist die skizzenhafte
Flüchtigkeit, mit der da flott über tiefgründige psychologische
Probleme hinweg erzählt wird. Die schon fast sarkastisch knapp
bemessenen Szenen eilen unbeirrt über schwierigste mentale
Herausforderungen hinweg, von einer angemessenen, gedanklichen Tiefe
kann nicht die Rede sein bei diesem Kurzroman. Während
andere Autoren ihre Werke manchmal narrativ hoffnungslos
überfrachten, geht David Szalay hier den umgekehrten Weg, wird damit
allerdings seiner anspruchsvollen Thematik in keiner Weise gerecht.
Ein Zuviel kann ärgerlich sein bei einem Roman, ein Zuwenig aber
auch, das ist die ernüchternde Erfahrung nach der turbulenten,
allenfalls für Minimalisten goutierbaren Lektüre!
1* miserabel - Bories
vom Berg - 20. Juni 2025

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