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Kalliope weint
Bibliophile haben mit Briefmarkensammlern ja eines gemein, sie sammeln ebenfalls Papier. Nur horten sie es in unvergleichlich größerer Quantität, als dicke Bücher. Sie können gar nicht genug davon bekommen. Die Motive für ihr Tun sind verschiedenartig. Oft ist es nur eine unbändige Sammler-Leidenschaft, welche diese Spezies Mensch antreibt, sie nach Erstausgaben, signierten Exemplaren und Raritäten aller Art suchen lässt. Eher selten ist zusätzlich auch noch ein wirklich ausgeprägtes literarisches Interesse im Spiel, und eher selten auch steht das lustvolle Lesen als Motiv an allererster Stelle. Es wird also meistens gekauft, um zu besitzen, nicht um zu lesen. Und oft steht dabei dann noch ein unterschwellig vorhandener oder gar deutlich ausgeprägter Geltungsdrang im Vordergrund. Die Bibliothek dient nämlich nicht zuletzt als sichtbarer Beweis der eigenen Belesenheit. Sie suggeriert dem staunenden Besucher Achtung gebietende literarische Kenntnisse ihres Besitzers. Was in vielen Fällen jedoch nichts anderes ist als pure Blasphemie, und zwar Kalliope gegenüber. Jener ranghöchsten Muse in der griechischen Mythologie, die man im Reigen anderer illustrer Schutzgöttinnen der Künste an der stets mitgeführten Schreibtafel erkennt als sinnfälligem Attribut.
In vielen klassischen Romanen wird deutlich, dass die eigene Bibliothek im Adel wie im Großbürgertum früher ein unverzichtbares Statussymbol gewesen ist. Sie war meistens in einem separaten Raum untergebracht und diente dem Hausherrn zuweilen auch als Arbeits- oder Raucherzimmer. Aber nicht wenige dieser imposanten Bibliotheken waren nichts anderes als reine Kulisse. Dort stellte man einfach nur meterweise lederne Buchrücken in die Schränke, mit Goldprägung möglichst. Dahinter befand sich also nichts Nützliches, sprich Lesbares. Allenfalls wurden die so entstandenen Hohlräume als Versteck für geheim angelegte Vorräte an Spirituosen oder Zigarren benutzt. In bescheidenerer Form diente eine Bibliothek später dann auch dem Bildungsbürgertum des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts als Beleg geistiger Regsamkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen schließlich die Buchklubs in Mode. Sie lieferten turnusmäßig leicht Lesbares für die inzwischen vergleichsweise wenigen, für Bücher vorgesehenen Fächer des Ungetüms namens Wohnzimmer-Schrankwand. Bei Auflösungen von Haushalten sieht man auch heute noch immer wieder, wie diese inzwischen völlig wertlos gewordenen Bücher massenweise in Altpapier-Containern verschwinden.
Als in den Jahren 2004/2005 die fünfzigbändige erste Staffel «Große Romane des Zwanzigsten Jahrhunderts» im Verlag ‹Süddeutsche Zeitung Bibliothek› erschien, waren deren Abonnements mit sukzessiv herausgegebenen Teillieferungen offensichtlich ein äußerst beliebtes Geschenk in Gutscheinform. Besucht man heute Freunde, begegnen einem dort ja oft die inzwischen vollständig versammelten, auf den ersten Blick leicht erkennbaren, weil regenbogenfarben Bände in den prall gefüllten Bücher-Regalen. Fragt man aber jetzt, also mehr als 15 Jahre später, interessiert nach, welche dieser Romane seinem Besitzer denn besonders in Erinnerung geblieben wären, werden kleinlaut höchstens zwei/drei Bände genannt. Der überwiegende Teil sei leider nach wie vor noch ungelesen, wird erklärt, aber irgendwann käme man schon noch dazu. Dutzende dieser einsamen, vergessenen Bände vergilben also nur in den prallvollen Billy-Regalen. Und schauen von dort traurig und vorwurfsvoll auf ihre lesefaulen Besitzer in den bequemen Fernsehsesseln herunter. Kalliope aber weint!
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