ARAVIND
ADIGA
DER WEISSE
TIGER
Moralisch
absurder Schelmenroman
Mit seinem sozialkritischen Schelmenroman hat der
indische Schriftsteller Aravind Adiga ein provozierendes Debüt
geschrieben, das 2008 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde,
nachdem es in Indien bereits lange vorher schon ein Riesenerfolg
war. Ganz offensichtlich hatte der Autor damit in seiner Heimat
einen Nerv getroffen. Er wurde aber auch massiv als Nestbeschmutzer
kritisiert: «Ich wusste, dass es Kritik geben würde» hat
er im Interview erklärt. «Ich habe damit gerechnet. Wäre sie
ausgeblieben, hätte ich sicher etwas falsch gemacht. Stellen Sie
sich ein Buch vor, das 1938 in Deutschland Lob von allen Seiten
bekommen hätte. Da könnte man auch sicher sein, dass etwas daran
nicht stimmen kann». Sein Roman sei «auch eine Reaktion auf die
Bollywood-Kultur des indischen Films und der indischen Literatur,
die die Armut vollkommen ausblendet».
Held dieser satirisch überhöhten Geschichte aus
dem sozialen Untergrund ist der junge Balram, Sohn eines
Rikschafahrers und der klügste Junge in Laxmangarh. Als Ich-Erzähler
berichtet er dem chinesischen Ministerpräsidenten, der in Kürze die
Stadt besuchen wird, in Briefform sieben Nächte lang, - Scheherazade
lässt grüßen, von seinem Aufstieg, der in Indien ebenso selten sei
wie ein weißer Tiger im Dschungel. Er gehört zu den wenigen
Underdogs, denen ein solcher sozialer Aufstieg gelingt in diesem von
einer allgegenwärtigen Korruption gebeutelten Land. Neben dem Glück,
das auch dazugehört, ist es sein unbedingter Erfolgswille, der ihm
den wundersamen Weg nach oben ebnet, er bezeichnet sich deshalb
selbst als «Der weiße Tiger». Durch Zufall erhält er beim Sohn eines
der drei lokalen Großgrundbesitzer einen Job als Chauffeur und kommt
mit ihm nach Delhi. Damit gehört er zur privilegierten Dienerschaft
seines zwielichtigen Herrn, der seinen immensen Reichtum mit
illegalem Kohleabbau verdient, für den üppige Schmiergeld-Zahlungen
fällig werden. Ebenso korrupt sind die Steuerbehörden, die ihre
hohen Einkommensteuer-Forderungen gegen reichlich Bargeld auf
erträgliche Höhen reduzieren. Mit Schmiergeld lässt sich sogar ein
tödlicher Autounfall mit Fahrerflucht aus der Welt schaffen, den die
Ehefrau seines Arbeitgebers verursacht hat. Sie überfährt in Delhi
nachts im Suff ein Kind auf dem Fahrrad. Balram muss ein
Schuld-Anerkenntnis unterschreiben, das dann aber gar nicht benötigt
wird. Denn Schmiergeld hilft natürlich auch hier aus der Klemme, die
Polizei spricht von mangelhafter Beleuchtung des Rades und stellt
die Ermittlungen ein. Um der ewigen Armutsfalle zu entgehen,
beschließt Balham eines Tages, seinen Herrn auf einer der
Schmiergeld-Fahrten zu töten und mit dem für seine Verhältnisse
immensen Geldbetrag unterzutauchen, um sich selbstständig zu machen.
Er gründet in Bangalore einen schon bald florierenden Taxidienst für
die nächtlich arbeitenden Angestellten in den Callcentern von großen
US-Unternehmen.
Diese bitterböse Geschichte ist zutiefst
unmoralisch, vermittelt sie doch die fragwürdige Botschaft, der Weg
aus dem Elend kann nur durch Gewalt gelingen. Adiga reduziert das
Kastensystem auf die sich unversöhnlich gegenüber stehenden
Gegensätze einer Bevölkerung zwischen Oben und Unten, Licht und
Finsternis. In vielen Szenen wird detailfreudig ein Panorama Indiens
gezeichnet, dass mit verstörenden Bildern das unsägliche Elend
schildert. Daran ändern auch alle politischen Reformen nichts, die
Wähler seien «wie Eunuchen, die über das Kamasutra streiten», heißt
es im Roman. Kein Wunder, dass Balram Chinas politisches System für
das bessere hält.
Satirisch überzeichnet, aber mit viel schwarzem
Humor angereichert, wird hier sarkastisch knapp aus der sozialen
Frosch-Perspektive über das von der Bevölkerung her zweitgrößte Volk
der Welt berichtet. Dabei steht der Hühnerkäfig als Metapher für die
Duldsamkeit des indischen Volkes. Zweifellos ein wichtiges Buch, das
auf amüsante Art den Horizont weitet und das Genre Schelmenroman
moralisch ad absurdum führt.
4* erfreulich -
Bories vom Berg - 22. November 2021
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