HELENA
ADLER
DIE INFANTIN
Man
wird doch noch träumen dürfen
In Zeiten, in denen der Dorfroman fröhliche
Urständ feiert, hat Helena Adler mit «Die Infantin trägt den
Scheitel links» eine autobiografisch inspirierte Anti-Idylle
thematisiert, die Geschichte «eines Aschenputtels, das anstatt
gläserner Schuhe dreckige Stallstiefel trägt», wie sie erklärt hat.
Die Figur der Infantin, hinter der sie sich versteckt und deren
Leben sie in ihrem zweiten Roman erzählt,
charakterisiert sie als «eine kratzbürstige Alice im Hinterland, die
gelernt hat, sich zu wehren». In 21 Kapiteln, die quasi als
narrativer Sidekick jeweils Bilder aus Museen rund um den Globus
zitieren, entwickelt die Autorin ein wahres Erzählfeuerwerk um
Kindheit und Adoleszenz ihrer wehrhaften Infantin und demaskiert
ironisch die verlogene Idylle vom Landleben als erstrebenswertem
Ideal.
Die namenlose Heldin, die sich selbst als
Infantin bezeichnet, wächst als jüngstes Kind auf einem
österreichischen Bauernhof in der Nähe von Salzburg auf. Man solle,
so heißt es gleich im ersten Satz, ein Gemälde von Pieter Bruegel
nehmen, - gemeint ist der Ältere, der Bauernbruegel. «Nun animieren
Sie es», fordert Helena Adler dann den Leser auf, denn was sie
nachfolgend beschreibt gleicht in der Tat dem kruden Geschehen auf
den bäuerlichen Gemälden des Niederländers, ein deftiges,
literarisches Wimmelbild sozusagen. Die Großfamilie, in der die
Infantin heranwächst, besteht aus den Urgroßeltern, denen der Hof
gehört, der dementen Großmutter, dem trinksüchtigen Vater, der
frömmelnden Mutter und den bösartigen, älteren Zwillingsschwestern,
von denen sie unentwegt gepiesackt wird. Aber sie weiß sich zu
wehren, wovon schon der Romantitel zeugt, sie trägt den Scheitel
links! Und so ist sie es denn auch, die den Hof abfackelt, ohne dass
ihr daraus wirklich Ungemach entsteht, die Erwachsenen sehen es mit
einem weinenden und einem lachenden Auge, die Versicherung zahlt ja.
Standhaft weigert sie sich, in den Kindergarten zu gehen, gehört in
der Schule zu den auffälligen Schülern, feiert in der Adoleszenz
wilde Partys mit der Dorfjugend und ist plötzlich unversehens
erwachsen.
Die schweißtreibende, dreckigen Stallarbeit, das
Schlachten der Tiere, die unsäglichen hygienischen Bedingungen auf
dem heruntergekommenen, überschuldeten Hof begleiten sie ebenso wie
die ständigen, rüden Anfeindungen ihrer Schwestern, denen sie wenig
entgegenzusetzen hat. Trotz all dieser Zumutungen behält sie den
Kopf oben, sucht ihnen durch ihre Träume zu entkommen oder stemmt
sich ihnen beherzt entgegen so gut sie kann. Dabei ist es
insbesondere der Vater, der in allen Lagen zu ihr hält, auch gegen
die wüsten Gewaltexzesse der bigotten Mutter. In diesem
ungewöhnlichen Roman wird ein fast archaisches Landleben in einer
Diktion beschrieben, die weitgehend allein steht als narrativer
Benefit. Der Plot selbst nämlich vermag niemanden wirklich
mitzureißen, zu profan ist das Geschehen. Aber wenn die Infantin zum
Beispiel erzählt, «zum Abendessen servieren sie mir Rindermilch mit
Rindenmulch», dann bekommt man eine Vorstellung von der
überschäumenden Sprachwucht der Autorin, denn so tönt es immerfort
in dieser Geschichte. Sie würzt den Zorn der aufrührerischen
Infantin Pointe für Pointe mit einem köstlichen, stets ironischen
Humor und verwandelt ihn mit permanenten Zuspitzungen zuweilen in
beißende Satire um.
«Lass mich ein Kind sein, sei es mit!» lautet ein
dem Roman vorangestelltes Motto aus Schillers ‹Maria Stuart›. Was da
aus kindlicher Perspektive so zynisch, vulgär, brutal, böse, eklig
und stets aggressiv beschrieben wird, ist eine surrealistische
Coming-of-Age-Geschichte ohnegleichen. Im Jaguar XK, «mein neuer
Roman, der gerade zum Weltkulturerbe ernannt wurde, auf dem
Beifahrersitz» brause ich «auf dem «Weg zu meiner Nobelpreisrede»
durch New York, hat Helena Adler träumerisch auf die Frage
geantwortet, was sie so treibe, wenn sie gerade nicht schreibe. Na
und, man wird doch noch träumen dürfen!
3*
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- 11. September 2020
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