DU BIST ICH
Manchen Autoren ist es in die Wiege gelegt, schriftstellerisch tätig zu werden, bei Joan Aiken waren gleich beide Elternteile bekannte Schriftsteller, wen wundert es da, wenn sie schon als Kind anfing zu schreiben. Zu ihrem literarisch breit gefächerten Prosawerk mit mehr als sechzig veröffentlichten Büchern gehört neben vielen Erzählbänden auch der Roman «Deception» von 1987, in Deutschland unter dem Titel «Du bist Ich» mit dem Untertitel «Die Geschichte einer Täuschung» erschienen. Zu Joan Aikens Vorbildern gehörten die Brontë-Schwestern und insbesondere Jane Austen, allein fünf Fortsetzungsromane und einen abschließenden Ergänzungsband hat sie in deren Stil geschrieben. Und so fühlt man sich als Leser schon nach wenigen Seiten dieser zeitlich im frühen 19. Jahrhundert angesiedelten Geschichte, als lese man einen der typischen Romane aus jener literarischen Epoche, hier allerdings aus einer modernen Perspektive geschrieben, mit einer sehr deutlich erkennbaren Distanziertheit also.
«Allen schreibenden Frauen in Vergangenheit und Gegenwart» sei dieser Roman zugeeignet, ist dem Roman als Widmung vorangestellt, und so hat denn auch prompt die junge Protagonistin Alvey schriftstellerische Ambitionen, sie schreibt an einem Roman. Die Mitschülerin Louise aus dem Mädchenpensionat, die ihr zum verwechseln ähnlich sieht, konfrontiert sie zum Schulabschluss mit einem ungewöhnlichen Vorschlag: Sie möge mit ihr die Identität wechseln, an ihrer Stelle auf das Landgut der Eltern zurückkehren, die Eltern hätten sie vier Jahre lang nicht gesehen und würden die Täuschung nicht bemerken. Ihren Lebenstraum, als Missionarin nach Übersee zu gehen, würden die Eltern unerbittlich ablehnen, deswegen habe sie diesen Plan entwickelt. Alvay, ohne familiäre Bindungen und mittellos einer ungewissen Zukunft entgegensehend, stimmt nach einigem Zögern zu.
Auf dem Landgut im äußersten Norden Englands findet sich Avey nun plötzlich in eine große Familie eingebunden, deren verzwickte, unheilvolle Situation durch die aberwitzigen Figuren selbst bedingt ist. Zum typischen Personal gehören der depressive Gutsbesitzer, dessen gefühlskalte Frau, die nur ihren Garten liebt, und viele Kinder, alle zusammen - jeder auf seine Art - schwierige Charaktere, verstockt, verschroben, einfältig. Das Familienleben dieser äußerst skurrilen Romanfiguren bildet im Wesentlichen den Stoff für eine turbulente Handlung, die kein Klischee auslässt, man kennt dergleichen als Leser zu Genüge. Alveys schriftstellerische Tätigkeit bildet darin einen fiktiven Rahmen, Joan Aiken bindet ihn als Nebenstrang immer wieder mit ein in den Plot. «Wie ist es anderen Menschen möglich» lässt sie an einer Stelle ihre Heldin zum Beispiel grübeln, «die Monotonie des täglichen Lebens auszuhalten, wenn sie keinen Roman im Kopf haben?» Und da auch dies, wie so vieles in diesem Roman, vorhersehbar ist, verrate ich hier kein Geheimnis: Natürlich wird Alveys Buch am Ende ein Riesenerfolg.
Ist dieser Roman also Kitsch, ein süßlicher Frauenroman mit vorhersehbaren Konstellationen, seinen bekannten Vorbildern entsprechend? Im Prinzip ja, könnte man mit Radio Eriwan sagen, aber seine Entstehungszeit ist eine andere und damit auch der Grundton, in dem er geschrieben ist. Die Rolle der Frau wird kritisch hinterfragt in der Figur der Alvey, sie ist nicht mehr automatisch für Heim und Herd bestimmt, kann sich selbst verwirklichen als erfolgreiche Autorin. Und ob sie je heiraten wird, ist ebenfalls nicht vorbestimmt für sie, daran verschwendet sie kaum einen Gedanken. Selbst das glückselige Landleben scheint nicht die einzig erstrebenswerte Lebensform zu sein, Alvey erlebt Newcastle als quirlige Stadt voller Leben und Wohlstand, geschichtsträchtig zudem bis in die Römerzeit zurückreichend. Dialogreich und stilistisch uninspiriert erzählt, bietet dieser Roman allenfalls für Genreleser ansprechende Unterhaltung, literarische Raffinesse findet sich hier ebenso wenig wie Kontemplatives.
1* miserabel - Bories vom Berg - 9. Oktober 2016
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