NUR EIN SPIELMANN
Wer Andersen sagt, meint Märchen, - und versäumt durch diese ebenso weit verbreitete wie voreilige literarische Zuordnung womöglich, auch den Romancier Hans Christian Andersen kennen zu lernen. Der dritte seiner insgesamt sechs Romane, 1837 erschienen, brachte ihm vor allem in Deutschland literarisch den Durchbruch, «Nur ein Spielmann» wurde ein Riesenerfolg. Es waren seine Romane, die den Dänen in Europa und im englischsprachigen Raum überhaupt erst bekannt machten, nicht seine 156 Märchen. Erfreut berichtet er 1852 in einer Tagebuchnotiz von einer Begegnung mit Amerikanern, die ihm erzählt hätten, «dass ich so weit verbreitet in Amerika gelesen werde, dass alle meine Romane an den Bahnhöfen verkauft werden». Vermutlich verdankt Andersen diese Popularität dem damals neuartigen Typus des Gegenwartsromans, der den ausländischen Lesern einen Einblick in das Alltagsleben eines fremden Landes ermöglichte, das zu jenen Zeiten die meisten niemals selbst würden bereisen können. Der Roman hat in seiner Modernität, in seiner Abkehr von der bis dahin üblichen, retrospektiv erzählten, biedermeierlicher Romantik, einen berühmten Landsmann auf den Plan gerufen, den Philosophen Søren Kierkegaard, der dem Werk einen wütenden, achtzigseitigen Verriss hat angedeihen lassen. Aber das war vor 180 Jahren!
Wir haben es mit einem melancholischen Entwicklungsroman zu tun, dessen beide Protagonisten ganz unterschiedliche Schicksale haben. Mit biografischen Bezügen zur eigenen Vita erzählt Andersen von Christian (sic!), dem Sohn eines armen Schneiders, der davon träumt, mal Musiker zu werden. Im herrschaftlichen Nachbarhaus wohnt ein reicher Jude, der seine Enkelin Naomi bei sich aufzieht. Der schüchterne Christian verliebt sich heftig in das schöne Mädchen. Auf dem Dach ihres Hauses nistet ein Storchenpärchen, und als das Haus eines Tages bis auf die Grundmauern abbrennt und auch die Störchin hoch oben im Nest verbrennt, weil sie ihre Jungen nicht verlässt, wird nur Naomi gerettet, - der Schneider nimmt die Waise vorerst bei sich auf. Leitmotivisch begegnet uns der Storch bis zum Ende immer wieder mal in dieser Geschichte, und zwar als Symbol für Reisen, für die Sehnsucht nach fernen Ländern, aber auch für Treue. Aus Christian und Naomi jedoch wird nie ein Paar, zu verschieden sind ihre äußeren Prägungen. Da ist die bittere Armut, in der Christian aufwächst und aus der er sich als mäßig begabter Geiger letztendlich nicht befreien kann. Auch zum Seemann taugt er nicht, wie er schnell erkennen muss, ihm fehlt ganz einfach der Mut zur kühnen Tat. Naomi hingegen, der das behütete Leben in Wohlstand zu langweilig wird, brennt mit einem Kunstreiter vom Zirkus durch und reist durch halb Europa, trennt sich schließlich aber von ihm. Der reiseerprobte Autor baut neben Kopenhagen auch die Metropolen Wien und Paris - kontrapunktisch zum einfachen Landleben - als Handlungsorte mit ein in seinen elegischen Roman. Weniger spektakulär und komfortabel hingegen ist Christians Weg, er schlägt sich recht und schlecht durchs Leben und ist am Ende des Romans «nur ein Spielmann».
Andersen erzählt seine berührende Geschichte mit ihrer Vielfalt an Motiven in einer betulichen Sprache und mit reichlich zeitbedingtem Pathos, durch die Neuübersetzung von 2005 ist sie aber flüssig lesbar. Immer wieder sind darin ziemlich naive religiöse Bezüge und nicht immer überzeugende, philosophische Reflexionen eingewoben, es finden sich aber auch wunderbar plastische Natur- und Landschaftsbeschreibungen, seine Figuren werden zudem sehr lebensecht beschrieben. Der linear und erfreulich stringent erzählte Plot lässt keine Langeweile aufkommen, die große Stärke jedoch ist das uns Heutigen zumeist unbekannte Lokal- und Zeitkolorit dieses Romans. Als hilfreich erweisen sich die fast zweihundert vom Autor selbst eingefügten Fußnoten und ein äußerst informatives Nachwort mit nützlichen Infos zu diesem sozialkritischen Roman und seinem als Romancier völlig verkannten Autor.
3* lesenswert - Bories vom Berg - 21. April 2018
© Copyright 2018 . |