DIE BRÜCKE ÜBER DIE DRINA
Im Jahre 1945 erschienen die drei Romane der «Bosnischen Trilogie» von Ivo Andrić, von denen «Die Brücke über die Drina» der mit Abstand bekannteste wurde. Sechzehn Jahre später erhielt Andrić den Nobelpreis «für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet». Sein weltberühmter Roman ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen Okzident und Orient, symbolisiert durch jene Brücke in seiner bosnischen Heimatstadt Višegrad, die beispielhaft das multiethnische Zusammenleben auf dem Balkan thematisiert. Eine kunstvoll angelegte Geschichts-Beschreibung des auch als Politiker und Diplomat tätigen Autors, der sich entschieden für den Vielvölkerstaat Jugoslawien eingesetzt hat, welcher später so kläglich gescheitert ist. Warum, das erfahren wir Leser aus diesem historischen Roman, der insoweit auch eine Lehrstunde darstellt über politische und soziologische Hintergründe, äußere und innere Ursachen der unsäglichen, bis heute andauernden Querelen in diesem Unruheherd Europas.
Auf dem Weg zwischen Istanbul und Sarajevo gelegen, gewinnt Višegrad mit seiner steinernen Brücke wirtschaftlich, aber auch militärisch an Bedeutung. Ein weitsichtiger osmanischer Wesir hatte die Brücke nahe der Grenze zwischen Serbien und Bosnien in den Jahren 1571 bis 1578 erbaut, sie bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost und West. In diesem Epos, das von der Gemeinschaft verschiedener Ethnien in dieser kleinen Stadt erzählt, ergänzen sich historische Geschehnisse und menschliche Schicksale zu einem homogenen, den Leser mitreißenden Erzählstrom. Der zeitliche Horizont dieser «Višegrader Chronik» reicht über einige Jahrhunderte hinweg, er umfasst die türkische Herrschaft vom Bau der Brücke an bis hin zur Annexionskrise und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
In vielen Episoden und Szenen, garniert mit allerlei Anekdoten, wird aus wechselnder Perspektive chronologisch von all jenen Menschen erzählt, die im Umkreis der Brücke leben. Die drei monotheistischen Religionen sind dort gleichberechtigt nebeneinander vertreten, der Hodscha betreut seine Gemeinde ebenso wie der Pope und der Rabbiner. Man fristet ein äußerst karges Leben im ständigen Kampf mit den Naturgewalten, erträgt stoisch alles Ungemach, verharrt in einer latenten Lethargie über die Generationen hinweg, ist anfällig für dumpfen Aberglauben und skurrile Mythen. Inwieweit all dies deterministisch bedingt ist, gehört zu den großen Fragen, die der Roman aufgreift und aus der Innenperspektive zu beantworten sucht, wobei die Brücke mit ihrer Symbolkraft ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv bildet. Der Leser begegnet einer Hundertschaft archaischer Typen, physisch und psychisch ebenso liebevoll wie treffend beschriebene, herrlich lebensechte Figuren allesamt, die ein dichtes Geflecht von Beziehungen unterhalten, welche letztendlich das Miteinander über die Jahrhunderte hinweg bestimmen.
Besonders erhellend fand ich die Episode nach der Annexion, als die neuen österreichisch-ungarischen Machthaber eifrig Vieles zu erneuern und zu reparieren begannen, was nach Meinung der lethargischen Einheimischen durchaus noch lange hätte bleiben können wie es war. Kritisch befasst sich Ivo Andrić am Ende auch mit den sozialen Veränderungen beim Übergang in die Moderne, hinterfragt ungehemmten Kapitalismus, ausufernden Konsum und eine die Menschen manipulierende Medienflut. Dieser in Deutschland lange vergessene Roman eines in seiner Heimat wenig geachteten Schriftstellers ist in einer wunderbar klaren, angenehm lesbaren Sprache geschrieben, inhaltlich unglaublich dicht zudem, völlig ohne Arabesken. Jede einzelne Seite der bildstark erzählten Geschichte eröffnet weitere Aspekte und ergänzt die Handlung durch immer neue Facetten. Den Leser erwartet ein ruhig erzählter, überaus bereichernder Roman von einem zu Recht mit dem Nobelpreis geehrten Schriftsteller, der damit ein kanonisches Werk der Weltliteratur geschaffen hat.
5* erstklassig - Bories vom Berg - 14. Dezember 2016
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