SIMONE DE BEAUVOIR
EIN SANFTER TOD
Meistverdrängtes Menschheitstrauma
Das Werk der französischen Schriftstellerin Simone de
Beauvoir ist neben seiner explizit philosophischen Ausrichtung oft auch
autobiografisch geprägt, dem 1964 erschienenen Roman «Ein sanfter Tod» liegt
dieses für sie spezifische Sujet ebenfalls zugrunde. Es geht um den Tod ihrer
Mutter, mit der die Autorin lebenslang ein gespanntes, distanziertes Verhältnis
hatte, das sich nun im Sterbeprozess zu verändern beginnt. In den sechs Jahre
vorher erschienenen «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause» hatte die Autorin
die Vorgeschichte der Entfremdung mit ihrer Mutter sehr detailliert beschrieben.
Im vorliegenden Roman nun greift de Beauvoir darauf zurück, sie erwähnt das der
damaligen Veröffentlichung folgende Zerwürfnis. Die jüngere Schwester übernahm
es dann, die erboste Mutter zu beschwichtigen. «Ich begnügte mich damit, ihr
einen Blumenstrauß zu schicken und mich wegen eines Wortes zu entschuldigen; das
rührte und verblüffte sie übrigens. Eines Tages sagte sie zu mir: Eltern
verstehen ihre Kinder nicht, aber das gilt auch umgekehrt…»
Vor diesem Hintergrund erzählt de Beauvoir von einem
häuslichen Unfall der 77jährigen Mutter. Bei den Untersuchungen in der Klinik
wird neben einem Oberschenkelhalsbruch auch noch eine Bauchfellentzündung
vermutet. Der Zustand der Patientin verschlechtert sich jedoch zusehends, es
folgen weitere ärztliche Befunde, bis sich schließlich herausstellt, dass eine
Krebsgeschwulst ihren Dünndarm verschließt. «Lassen Sie sie nicht operieren»
raunt eine es gut meinende, ältere Krankenschwester den beiden Töchtern zu. Sie
entscheiden anders, bei der Operation wird dann eine riesige Krebsgeschwulst
gefunden, die kurzzeitig zum Tode führen würde. Was folgt ist ein vierwöchiger
schmerzvoller Sterbeprozess, den die Autorin minutiös beschreibt, in dem sich
auch das gespannte Verhältnis zur Mutter allmählich bessert, dessen
unabwendbares Ende ihr jedoch rücksichtsvoll verschwiegen wird.
In dem Auf und Ab des körperlichen Verfalls wird deutlich,
wie sehr doch die Mutter am Leben hängt. Sie will nicht sterben, lehnt sogar
strikt allen behutsam angebotenen geistlichen Beistand ab. Was erstaunlich
scheint, war doch gerade die unbeirrbare religiöse Bindung der Mutter einst
Auslöser für die Differenzen, zu denen dann der damals fast skandalöse
Lebenswandel der emanzipierten Tochter noch erschwerend hinzukam. Denn Simon de
Beauvoir hatte eine völlig andere Auffassung von der Rolle der Frau, die sie in
ihrem erfolgreichsten Werk «Das andere Geschlecht» niederschrieb. Ihre
Erkenntnis, «man wird nicht zur Frau geboren, man wird dazu gemacht von der
Gesellschaft» hat ihr für immer den Status einer Ikone der Frauenbewegung
verliehen.
Der Roman ist insoweit ein
Zeugnis der weiblichen Emanzipation, die sich innerhalb der einen Generation von
Mutter zur Tochter entscheidend weiterentwickelt hatte. Die Geschichte, die auch
eine Rückblende auf die familiären Verhältnisse beinhaltet, wird äußerst
detailverliebt erzählt in einer nüchternen, uneitlen Sprache, die flüssig zu
lesen ist. Zweifellos aber ist der Roman als Auslöser für philosophische
Diskurse geeignet, wozu auch die Frage gehört, ob jede medizinisch mögliche
Verlängerung des Lebens wirklich immer geboten ist. Aus atheistischer Sicht
bleibt mir unverständlich, warum man denn verzweifelt den doch fest
versprochenen Einzug der bußfertigen Glaubenden in den Himmel unbedingt
hinausschieben will? Bedeutet das etwa Zweifel an den Grundfesten religiöser
Verheißungen? Die Versöhnung zwischen Mutter und Tochter findet nur nonverbal
statt, durch Gesten, Lächeln, ein sanfter Tod also zu guter Letzt, wenigstens
auf emotionaler Ebene. In einer resümierenden Schlussbetrachtung beleuchtet die
Autorin den Tod aus existentialistischer Sicht, er sei widernatürlich, «weil
seine Gegenwart die Welt in Frage stellt», ein Unfall für den Menschen «und,
selbst wenn er sich seiner bewusst ist und sich mit ihm abfindet, ein
unverschuldeter Gewaltakt».
3*
lesenswert - Bories vom Berg - 24. Januar 2016
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