HAUS OHNE HÜTER
Unter den wenigen Lichtgestalten der deutschen Nachkriegsliteratur ist Heinrich Böll, Nobelpreisträger von 1972 und damit nach Hesse zweiter Deutscher, dem diese Ehrung nach dem Zweiten Weltkrieg zuteil wurde, zweifellos der bedeutendste. Zu seinem Frühwerk zählt der 1954 erschienene Roman «Haus ohne Hüter», einer seiner Gegenwartsromane, in denen er die «Gesellschaft von Besitzlosen und potenziellen Dieben», wie er das Deutschland des Wirtschaftswunders nannte, literarisch an den Pranger stellte. Ein unbeirrbar der Moral verpflichteter Schriftsteller, der sich auch politisch vehement einmischte und damit über seine Rolle als Chronist weit hinauswuchs.
In einer Stadt am Rhein leben Anfang der 1950er Jahre zwei Kriegerwitwen mit ihren elfjährigen Söhnen, die als Klassenkameraden eng miteinander befreundet sind. Während Martin im Wohlstand aufwächst im Hause seiner Großmutter, Inhaberin einer Marmeladenfabrik, erlebt Heinrich bitterste Armut und wird schon früh gezwungen, durch Schwarzmarktgeschäfte zum Lebensunterhalt beizutragen. Albert, ein Freund von Martins Vater Rai und Augenzeuge seines Todes, lebt ebenfalls in der Fabrikantenvilla. Rai hatte in Russland, als ein nassforscher junger Leutnant ihn duzte, zurückgefragt: «Haben wir Brüderschaft getrunken»? Er wurde von Leutnant Gäseler daraufhin zu einem Patrouillengang eingeteilt, ein unsinniges Himmelfahrtskommando, bei dem er seinen voraussehbaren Tod fand. Nella, Martins traumatisierte Mutter, führt ein unstetes Leben mit wechselnden Liebhabern, ist unglücklich, will nie mehr heiraten und flüchtet sich in Tagträume von einem Leben mit Rai, wie es hätte sein können. Heinrichs Mutter hat wechselnde Beziehungen mit Männern, von den Jungen als «Onkels» bezeichnet, die sie aber nicht heiraten will, weil sie dann die Kriegerrente verliert. Bölls Figuren sind lebensnah beschrieben, seine fünf Protagonisten wirken allesamt sympathisch, man lebt und leidet mit ihnen. Am Ende schließlich deutet er sehr vage eine Perspektive an, die eine Befreiung sein könnte aus unersprießlicher Situation, der Leser darf den Faden weiterspinnen.
Böll schildert äußerst detailreich und authentisch die Lebenswirklichkeit jener Jahre, er erzählt die Familiengeschichten aus wechselnden Perspektiven in einer wunderbar stimmigen, klaren und schnörkellosen Sprache. Ältere Leser werden vieles wiederfinden, was sie selbst erlebt haben, jüngere werden staunen über eine Vergangenheit, die so weit ja gar nicht zurückliegt. Bölls Sprache ist nüchtern, oft sogar lakonisch und mit einer Symbolik angereichert, die den rheinischen Katholizismus listig hinterfragt. Er beleuchtet die lange nachwirkenden Verheerungen, die von den Nazis angerichtet wurden in der vaterlosen Kriegsgeneration. Seine Liebe gilt den Opfern, er stellt sie den Tätern gegenüber, die schon bald als Opportunisten im Nachkriegsdeutschland Macht und Einfluss zurück gewonnen haben, jener Leutnant gehört dazu. Aber Nella, die sich rächen will an Gäseler, gibt resigniert auf, verzichtet auf Rache, weil die nichts ändern würde, ihre Verzweiflung nicht lindern kann.
Bölls melancholischer Familienroman ist geeignet, manches zu relativieren für uns Heutige, die wir Probleme beklagen, die gegen die damaligen geradezu läppisch sind. Insoweit ist er ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur eines Volkes, das gar zu gern die unrühmliche Vergangenheit ausblenden wollte und will. Der Roman ist keine Anklage, eher eine resignative Aufarbeitung damaligen Geschehens und seiner fatalen Folgen. Sechzig Jahre später erscheint uns die Problematik der «Onkelehen» angesichts unserer Patchwork-Familien zwar als ganz nebensächlich, sie wirkt aber noch heute in die Lebensgeschichte vieler Älterer hinein, die in einem «Haus ohne Hüter» groß geworden sind und bleibend geprägt wurden. Davon zu lesen ist dank Bölls humorvoller Sprache nicht nur sehr bereichernd, sondern oft auch amüsant, ein Lesevergnügen mithin auf allerhöchstem Niveau.
5* erstklassig - Bories vom Berg - 12. Juli 2015
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