TOMER
DOTAN-DREYFUS
BIROBIDSCHAN
Literatur
als Widerstand gegen die Zeit
Das Roman-Debüt des israelischen Schriftstellers
Tomer Dotan-Dreyfus weist schon im Titel «Birobidschan» auf den Ort
der Handlung hin, die Hauptstadt der von Stalin in den 1930er Jahren
gegründeten jüdisch-autonomen Oblast gleichen Namens, ein
Verwaltungsgebiet in Sibirien, wo der Amur die Grenze zu China
bildet. Über einen Zeitraum von etwa siebzig Jahren hinweg erzählt
der Autor Geschichten aus diesem typischen Schtetl, beginnend schon
vor dessen Gründung mit dem mutmaßlichen Einschlag des Tunguska-Asteroiden ganz in der Nähe, um den sich viele Mythen
ranken. Über die stilistisch dem Magischen Realismus verpflichtete
Geschichte heißt es im Vorwort des Autors: « der Text ist mein
Labor, und ich bin der Versuchsleiter.» In seinem Epilog berichtet
er dann auch von der Entstehung seiner Geschichte, sie sei ihm
«außer Kontrolle geraten».
Die Zeit scheint still zu stehen in dem Schtetl
an der Sibirischen Eisenbahn, die täglich einmal dort hält, die
einzige Verbindung zur großen weiten Welt. Der Zeitungsmann bringt
dem arbeitslosen Sascha Rosenzweig dann jedes Mal die Moskauer
Zeitung, und so kann er täglich lesen, «was zwei Wochen zuvor
passiert war.» In verschiedenen Handlungs-Strängen wird von Boris
dem Fischer erzählt, einem der ältesten Birobidschaner, ferner von
der seit Kindertagen andauernden Liebe zwischen Alex und Rachel.
Berichtet wird auch von Dmitrij und seinen Wahn-Vorstellungen,
seiner unbegründeten Angst vor Wölfen. Und schließlich von einem
Roadtrip von Gregory und Sascha, die mit dem Auto Richtung Tunguska
fahren. Der philosophisch bewanderte Sascha erhofft sich von der
abenteuerliche Fahrt und den langen Gesprächen, die sie dabei führen
würden, den alten Freund von seinen Depressionen befreien zu können.
Fernab des Weltgeschehens verläuft das Leben im
Schtetl gemächlich und überschaubar, jeder kennt jeden und alles
soll möglichst immer so bleiben, wie es ist. Die genügsamen Bewohner
haben aus Prinzip alle gleich viel Geld, es geht also allen gleich
gut und keiner strebt nach mehr, man lebt ein utopisches,
sozialistisches Ideal. Als ein junger Mann von Durchreisenden als
Dank 500 Rubel geschenkt bekommt, hat er große Mühe, dieses
überschüssige Geld loszuwerden, denn wenn er es im Rathaus abgeben
würde, hätte er nur misstrauische Fragen zu beantworten. Kurz
entschlossen befestigt er es an einem Stein und wirft ihn in den
See. Und wie es so ist, ausgerechnet Boris, der alte Fischer, findet
den Stein in seinem Netz, und nun hat er das Problem mit dem Geld!
Sehr poetisch werden die hormon-getriebenen Jungen und Mädchen des
Ortes beschrieben, «die ihre ersten Schritte in die Welt der inneren
Sonnenuntergänge wagten», - was für eine schöne Umschreibung!
Ein kleines Manko des ansonsten erstklassigen
Romans ist die kaum überschaubare Figurenfülle, wobei erschwerend
hinzu kommt, dass der auf 81 Kapitel verteilte Erzählstoff auch noch
in oft wilden Zeitsprüngen aneinander gereiht ist. Nur mit einem
Spickzettel behält man da den Überblick! Als Verbeugung vor dem
jiddischen Schriftsteller heißt eine der Straßen in Birobidschan «Scholem-Alejchem-Alle».
Man stößt beim Lesen auch immer wieder auf jiddische Begriffe, und im Alltagsleben richtet man sich hier noch streng nach den
religiösen Gesetzen, der Rabbi ist die von allen anerkannte
Respektsperson. Wohldosiert streut der Autor auch einiges an
typischen Redewendungen in seine Erzählung ein, ergänzt durch ganz
unakademische Alltags-Philosophie, und er garniert das Ganze mit
einem gehörigen Maß an jiddisch geprägtem Humor. In seinem Epilog
resümiert der Autor tiefsinnig: «Kunst ist vor allem ein Widerstand
gegen die Zeit.» Und er ergänzt: «Wenn man ein großartiges Buch
verschlingt, wird man nicht satt, sondern im Gegenteil hungrig.»
Genau diese Lese-Erfahrung macht man denn auch mit diesem
außergewöhnlichen Roman!
4*
erfreulich
- Bories vom Berg - 1. Juli 2024
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