DER LIEBHABER
Schon durch den Titel «Der Liebhaber» hatte die bis dato wenig gelesene Schriftstellerin Marguerite Duras 1984 gewisse Erwartungen beim Lesepublikum geweckt, der Prix Goncourt tat ein Übriges für Bestsellerstatus und Millionenauflage. Haben sich diese Erwartungen erfüllt? Im Prinzip ja, würde Radio Eriwan antworten, aber die apostrophierte Erotik erweist sich als kinderbuchtauglich harmlos, und die fragmentarische Erzählweise ist zudem schwierig lesbar. Ein derart sperriger Text dürfte kaum massenkompatibel sein, wo aber liegt denn dann der Schlüssel zum Erfolg?
Im umfangreichen Œuvre der Autorin ist die Unmöglichkeit der Liebe ein beliebtes Sujet, sie hat es schon 1959, mit ihrem Drehbuch zum Spielfilm «Hiroshima, mon amour» thematisiert. Im vorliegenden Roman geht es um die Beziehung einer 15jährigen Schülerin zu einem zwölf Jahre älteren Mann. Anders als Nabokovs Lolita ist die französische Ich-Erzählerin noch Jungfrau, als sie Anfang der dreißiger Jahre in Saigon einen reichen Chinesen trifft, der sie zu seiner Geliebten macht. Eine Amour fou von Anfang an, sie versucht sich damit aus den Verstrickungen ihrer chaotischen Familie zu befreien, begreift sich als Prostituierte und lässt sich auch bezahlen, ist aber gleichzeitig geradezu süchtig nach sexueller Lust. Der namenlose Chinese, von der Autorin mitunter nur als der «Mann aus Cholen» bezeichnet, ist ihr verfallen, liebt sie unsterblich, wird sie aber niemals heiraten können. Denn er ist völlig vom Vater abhängig, und der hat andere Pläne, will eine arrangierte Ehe mit einer jungen Chinesin. Nach eineinhalb Jahren endet die Liaison, sie geht zum Studium nach Paris, wird Schriftstellerin (sic!) und hört erst Jahrzehnte später wieder von ihm, als er, inzwischen Familienvater, sie anruft. Und mit diesem Anruf endet der Roman auch, der letzte Satz lautet: «Er sagte ihr, dass es wie früher sei, dass er sie immer noch liebe, dass er nie aufhören werde sie zu lieben, dass er sie lieben werde bis zu seinem Tod». Ist sie also doch kein leerer Wahn, die Liebe, wie es Marcel Reich-Ranicki als Botschaft herauszulesen glaubte?
Duras beschreibt in ihrer typischen Vorliebe für das Verwegene, im Abstand vieler Jahrzehnte, den Tabubruch ihrer kindhaften Romanfigur, über deren autobiografische Bezüge viel spekuliert wurde. Sie tut dies sprachlich in einer schichten, fast karg zu nennenden, monotonen Erzählweise, emotional sehr unterkühlt, und unterstreicht damit geradezu beschwörend den Wahnsinn, ja den Horror des modernen Lebens, an dem sie teilhat, wie sie in einem Interview mal deprimiert anmerkte. Ihre Gestalten sind irgendwie alle auf tragische Weise verstrickt in ihre Leidenschaften und Widersprüche, erleben Gefühlskälte und Verluste, und auch die Fragen nach Entfremdung, nach Unendlichkeit und Tod beschäftigen die Autorin. Durch häufige Wechsel der Erzählperspektive in die dritte Person distanziert sich Marguerite Duras von ihrer namenlos bleibenden Protagonistin, die dann in den wenigen, unspektakulären erotischen Szenen als «die Kleine» bezeichnet wird. Ihre fragmentarische Erzählung lässt vieles unausgesprochen, ist zudem gewöhnungsbedürftig insbesondere wegen der wilden Zeitsprünge, manchmal in Einschüben von wenigen Zeilen, mit denen der Leser kaum etwas anfangen kann. Auch viele ihrer puzzleartig eingestreuten Gedankengänge, kurzum ihre Weltsicht, war mir häufig zu abstrus, ich konnte dem wenig abgewinnen.
Der Handlungsrahmen dieser Amour fou wird ergänzt durch bruchstückhafte Schilderungen einer turbulenten, vaterlosen Kindheit mit der als wahnsinnig bezeichneten Mutter, dem bösartigen älteren Bruder, dem geistig zurückgebliebenen jüngeren Bruder, mit Freundinnen aus dem Internat und aus Paris. All das aber bleiben zusammenhanglose Erinnerungsfetzen, die kaum Reflexionen des Lesers auszulösen vermögen. Bleibt einzig der Lolitaeffekt, um den Erfolg dieses Romans zu erklären, ein bisschen wenig, wie ich meine.
2* mäßig - Bories vom Berg - 15. Mai 2015
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