TANZ DES VERRATS
Seinen neuen Roman mit dem reißerischen Titel «Tanz des Verrats» hat der französische Schriftsteller Mathias Énard im Gespräch als «einen Roman über das 20. Jahrhundert» bezeichnet. Einer der Gründe, ihn zu schreiben, sei der Ukrainekrieg, der von Russland als Kampf gegen die ‹Nazis› begründet wurde. Damit sei der Krieg endgültig nach Europa zurückgekehrt. Es sind eigentlich zwei Romane in einem, die da ohne erkennbare Berührungspunkte in ständigem Wechsel nebeneinander erzählt werden. Einerseits die Geschichte eines berühmten Mathematikers, der Buchenwald überlebt hat und als überzeugter Kommunist in der neu gegründete DDR geblieben ist, während seine Lebensgefährtin und Mutter seiner Tochter es vorgezogen hat, in den Westen zu übersiedeln. Zum zweiten ist es die Geschichte eines namenlosen Deserteurs in einem unbenannten Krieg, der sich unter ständiger Gefahr zu einer ungenannten Grenze durchzuschlagen versucht.
Am 11. September 2001 findet auf einem gegenüber der Pfaueninsel auf dem Berliner Wannsee vertäuten Ausflugsdampfer ein Kongress zu Ehren von Paul Heudeber statt, dem berühmten Mathematiker. Dessen siebzigjährige Tochter Irina, die selbst Mathematik-Historikerin geworden ist, erzählt in Rückblenden von ihrem Vater, der beim Schwimmen im Mittelmeer ertrunken ist. Gerüchte sprechen von Selbstmord, den er begangen habe, weil er als unbeirrbarer Kommunist den sang- und klanglosen Untergang der DDR nicht überwinden konnte. Auch ihre Mutter Maja Scharnhorst ist anwesend, und Irina versucht, so viel wie möglich über ihren Vater in Erfahrung zu bringen, denn unter den Kongress-Teilnehmern befinden sich auch viele seiner Kollegen und Weggefährten. So erfährt sie auch, wie er im KZ Buchenwald Mithäftlingen Mathematik-Unterricht gegeben hat, und dort hat er auch seine «Ettersberger Vermutungen» niedergeschrieben, eine literarisch-mathematische Melange aus Lyrik und Zahlenkunde. Mit dem Einsturz der Twin Towers in New York am gleichen Tage markiert dieser Kongress auf dem Wannsee auch eine Zeitenwende.
Zweitens wird, ständig abwechselnd, in einer Art Selbstgespräch auch von einem Kriegsverbrecher erzählt, der als Deserteur durch eine karge Gebirgslandschaft irrt und dabei unverhofft auf eine junge Frau trifft, die sich mit einem Esel ebenfalls auf der Flucht befindet. Sie ist in ihrem Dorf mit zwei anderen Frauen von Feinden brutal gedemütigt und vergewaltigt worden, konnte sich aber befreien. In einem ersten Reflex will er sie erschießen, sie und ihr Esel stellen ja eine große Gefahr für ihn dar, entdeckt zu werden. Sie kennt ihn als grausamen Kriegsverbrecher und rechnet fest damit, dass er sie vergewaltigen und töten wird. Aber er beginnt sie zu pflegen, als sie bei einem Blitzschlag schwer verletzt wird. Während der Jagd trifft er auf eine Gruppe von drei marodierenden Soldaten, das Schicksal der Frau scheint damit besiegelt zu sein. Er erzählt ihnen lieber von ihrem gemeinsamen Versteck, bevor sie es von selbst finden. Erwartungsgemäß sehen die Drei die Frau denn auch als willkommene Beute an. Aber sie ersticht den ersten Soldaten, als er sie vergewaltigen will, die beiden anderen erschießt der Deserteur blitzschnell in einer völlig ungeplanten, spontanen Reaktion.
Im Roman heißt es an einer Stelle: «Beim Tanz des Verrats entdeckt man, was der andere einem verschwiegen hat. Es gibt nichts mehr zu verbergen, alles kommt ans Licht, alles wird verziehen, ohne dass man etwas gestehen müsste, - das ist das Schöne am Tanz des Verrats.» Mit dem Fokus auf Extremsituationen schreibt der Autor über kriegerische Geschehnisse des 20ten Jahrhunderts, ohne sie zu Ende zu erzählen. Mathias Énard lenkt seinen Fokus auf Extrem-Situationen, in denen der Mensch aus Furcht moralisch desertiert. Ein feinsinniger Roman mithin über Erpressbarkeit und Komplizenschaft, über die kriegerischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der exemplarisch ihre verstörenden moralischen Wirkungen aufdeckt!
3* lesenswert - Bories vom Berg - 26. Dezember 2024
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