ALLER TAGE ABEND
Zufall bestimmt unser Leben, und das gilt nicht nur für die Mutationen in der Darwinschen Theorie, sondern auch für unser Schicksal, den Tod eingeschlossen. «Was wäre wenn» lautet die Kardinalfrage, der Jenny Erpenbeck in ihrem Roman nachgeht, denn auch wenn gestorben wird an einem Tage, so ist doch längst noch nicht «aller Tage Abend». Der Modus einer als unwirklich hingestellten Annahme, der Irrealis also, dient hier als Mittel zum Zweck, in fünf Bücher gegliedert erlebt der Leser nämlich entsprechend viele Varianten des Lebens einer jeweils identischen Protagonistin. Einen Triumph des Konjunktivs, ein faszinierendes Spiel mit den Möglichkeiten erleben wir in diesem erstaunlichen Plot, bei dem unverkennbar das Leben von Hedda Zinner, hoch dekorierte DDR-Schriftstellerin und Großmutter der Autorin, als Anregung gedient haben dürfte.
Die anschaulich geschilderte Lebenswelt galizischer Juden ist der geschichtliche Hintergrund des ersten Buches, in dem ein 1902 geborenes Mädchen noch im Säuglingsalter plötzlich an Atemstillstand stirbt. Durch die zwischen die Kapitel geschalteten Intermezzi werden Alternativen für das Geschehen aufgezeigt, hier also wird die Frage aufgeworfen, wie wäre die Geschichte weitergegangen, wenn durch eine beherzte Schockbehandlung die Atmung wieder eingesetzt hätte? Das erfahren wir im zweiten Buch, wo wir sie als junge Frau im Wien des Jahres 1919 wiedertreffen, sie wird Mitglied der Kommunistischen Partei und fristet mehr schlecht als recht ein karges Leben, das gewaltsam durch Mord auf Verlangen endet. Nach dem zwischengeschalteten Intermezzo erleben wir sie als Siebenunddreißigjährige im dritten Buch in Moskau, wohin sie sich als inzwischen verheiratete Kommunistin mit ihrem deutschen Mann geflüchtet hat. Sie stirbt in russischer Gefangenschaft nach einem grotesken Justizverfahren, bei dem das Urteil von vornherein feststeht. Als angesehene Schriftstellerin erleben wir sie im real existierenden Sozialismus der DDR anschließend wieder, dem Arbeiter- und Bauernparadies auf deutschem Boden, wo sie als Sechzigjährige sehr profan durch einen Sturz auf der Kellertreppe stirbt. Im fünften Buch schließlich sehen wir sie nach der Wende als demenzkranke greise Dame im Altersheim wieder, wo sie ihre letzten Tage verbringt und schließlich stirbt.
Ein allwissender Erzähler, aus häufig wechselnder Innensicht der verschiedenen Personen berichtend, spiegelt in diesem Roman die Brüche eines ganzen Jahrhunderts in einem einzigen Frauenleben wieder. Der historische Kontext ist stets präsent in diesem Roman, die Österreichische Monarchie zunächst, die Aktivitäten der Kommunistischen Partei im Wien der Zwischenkriegszeit, der Aufstieg der Nazis, der Stalinismus in Russland, die Realität eines zweiten deutschen Staates nach dem verlorenen Weltkrieg, die Wiedervereinigung schließlich. Viele Figuren der Erzählungen bleiben namenlos, werden allenfalls nach ihrem Verwandtschaftsgrad als Mutter, Tochter, Vater, Mann oder auch nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen bezeichnet, was an Usancen der Geheimdienste erinnert.
Das Ganze erscheint mir arg konstruiert, es ist außerdem melancholisch auch ziemlich überfrachtet, emotional strapaziös jedenfalls, fast depressiv machend. Durch das Verwirrspiel mit den Figuren wird es zuweilen recht schwierig für den Leser, der Handlung zu folgen. Die Sprache ist teilweise hölzern und an manchen Stellen schlicht absurd, mir fehlte gelegentlich jedes Verständnis dafür, Sammler von Stilblüten hingegen dürften ihre helle Freude daran haben. Ein äußerst fragwürdiges Stilmittel in meinen Augen, denn sprachliches Unvermögen darf man wohl ausschließen bei dieser Autorin. Ihr zweifellos ambitioniertes Vorhaben ist misslungen, als Leser wird man wahrlich nicht mitgerissen von dieser Geschichte, und von den wenigen darin enthaltenen philosophischen Gedanken auch nicht wirklich bereichert. Schade eigentlich!
2* mäßig - Bories vom Berg - 7. Januar 2014
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