JENNY
ERPENBECK
KAIROS
Entscheidende
Momente in Liebe und Politik
Der jüngst erschienene Roman von Jenny Erpenbeck
mit dem deskriptiven Titel «Kairos» bestätigt eindrucksvoll eine
Kritik in der gestrigen Rede von Angela Merkel zum Tag der Deutschen
Einheit, in der sich die Bundeskanzlerin dagegen verwahrt hat,
Lebenserfahrungen in der DDR als Ballast zu bezeichnen. Vor dem
Hintergrund der untergehenden DDR erzählt die in
Ostdeutschland sozialisierte Schriftstellerin die
Liebesgeschichte eines ungleichen Paares, die in ihrer Intensität an
die Worte von Heinrich Heine erinnert: «Es ist eine alte Geschichte,
doch bleibt sie immer neu; und wem sie just passieret, dem bricht
das Herz entzwei».
Genau das passiert den beiden Protagonisten
dieses Romans, der 53jährige Schriftsteller Hans und die 19jährige
Katharina verlieben sich in einem Linienbus auf den ersten Blick
unsterblich ineinander, ihr Kairos also, jener in der griechischen
Mythologie für eine schicksalhafte Entscheidung als günstig geltende
Augenblick! Leitmotivisch häufig wiederkehrend begehen sie diesen
entscheidenden Moment ihres Lebens wie einen persönlichen Feiertag,
indem sie an die Bushaltestelle zurückkehren und das damalige
Geschehen wie bei einer Prozession wiederholen. Der nachfolgende
Liebestaumel entwickelt sich mit der Zeit allerdings zur Amour fou,
aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Ort des Geschehens ist
Ost-Berlin, wo Hans in den achtziger Jahren neben seiner
Schriftstellerei als «fester Freier» beim Rundfunk arbeitet und
Katharina nach dem Abitur eine Lehre als Setzerin im Staatsverlag
absolviert. Hans ist zwar verheiratet, mit seiner Frau hat er sich
aber dahingehend arrangiert, dem jeweils anderen seine Freiheiten zu
lassen. Im Bett findet zwischen ihnen seit zehn Jahren nichts mehr
statt, aber eine Trennung wollen sie beide nicht. Hans und Katharina
hingegen verbindet neben rauschhaftem Sex ihr kulturelles Interesse,
sie leben in einer privilegierten Boheme, interessieren sich für
Kunst, lieben gutes Essen in den angesagten Restaurants Ost-Berlins.
Ineinander verschachtelt werden hier,
autobiografisch grundiert, die Probleme der beiden Protagonisten und
die Geschichte der untergehenden DDR erzählt. In Hans ist der
überzeugte Sozialist verkörpert, der als junger Nazi-Sympathisant
bewusst in die DDR gegangen ist. Auch nach der Wende noch ist der
charakterlich eher widersprüchliche Literat von der prinzipiellen
Überlegenheit dieses staatlichen Systems überzeugt. Katharina ist
fasziniert vom Intellekt ihres Geliebten, sie hängt an seinen
Lippen, wenn er zu politischen oder kulturellen Themen mit ihr
spricht oder ihr aus Büchern vorliest, er beflügelt regelrecht ihr
Interesse an der Kunst und beeinflusst damit ihre Berufswahl. In
ihrer Beziehung ist er dominant, lebt sogar sado-masochistische
Gelüste an ihr aus, bis sie ihm einen einmaligen Fehltritt mit einem
jungen Kollegen beichtet. Hans zerbricht daran, für ihn stürzt eine
Welt zusammen, er glaubte an die einmalige, ewige Liebe zwischen
ihnen. Schließlich begibt er sich sogar in psychiatrische
Behandlung, kann sich aber trotz allem nicht von ihr trennen.
Jahrelang finden sie immer wieder zueinander, eine Zeit seelischer
Quälerei für alle beide.
Als atmosphärisch dichte Milieustudie aus der
Ostberliner Kulturszene ermöglicht «Kairos» einen tiefen Einblick in
das untergegangene Staatsgebilde, dem heute noch so mancher
nachtrauert. Im Prolog und Epilog enthüllt die Autorin klammerartig
als Katharsis den verstörenden Charakter des intellektuellen
Schriftstellers. Dieser mit vielen heute schon fast vergessenen
Details aus der deutschen Vergangenheit aufwartende, beklemmende
Roman ist dramaturgisch geschickt aufgebaut und sprachlich adäquat
umgesetzt. Im Mittelteil stören einige Längen in der Liebesbeziehung
mit ihrem ewigen Aufs und Abs, zudem auch mit häufigen szenischen
Wiederholungen, ein wenig den ansonsten aber durchaus gegebenen
Lesegenuss. «Kairos» ist als Wenderoman wie als
Liebesdrama gleichermaßen überzeugend!
4* erfreulich -
Bories vom Berg - 4. Oktober 2021
© Copyright 2021
|