SHERKO
FATAH
DER GROSSE
WUNSCH
Innere
Befreiung im islamistischen Getto
In «Der große Wunsch» des in Ostberlin geborenen
Schriftstellers Sherko Fatah bestimmen die irakisch-kurdischen
Wurzeln seines Vaters, durch die er selbst auch einen besonderen
Zugang zu dieser nahöstlichen Krisenregion hat, die spezielle
Thematik seines neuen Romans. Protagonist der Geschichte ist der in
Berlin lebende Murat, dessen Name «Der große Wunsch» bedeutet, -
damit auch das schon mal geklärt ist! Seine volljährige Tochter
Naima ist spurlos verschwunden, sie hat auch seiner geschiedenen
Frau keinerlei Nachricht hinterlassen. Seine Nachforschungen
ergeben, dass sie wohl mit einem Gotteskrieger französischer
Herkunft, den sie im Internet kennen gelernt hat, nach Syrien
aufgebrochen ist, um dort zu heiraten. Murat macht sich Vorwürfe,
ihr viel zu wenig von seinem krisen-geschüttelten Herkunftsgebiet
erzählt zu haben, in dem verschiedene politische Kräfte und diverse
Terrorgruppen in völlig undurchschaubare Kämpfe verwickelt sind und
Grenzen nur auf dem Papier existieren.
Als Murat die Ungewissheit nicht mehr aushält,
borgt er sich von verschiedenen Freunden Geld, hebt als Teilhaber
einer kleinen Firma auch noch alle Bankguthaben ab und reist über
die Türkei in das vom Islamischen Staat beherrschte Gebiet, in dem
er seine Tochter vermutet. Er will sie nach Hause holen, eine
gefährliche Reise, wie er schon bald merkt. Denn die Schleuser, zu
denen er über das Internet Kontakt aufgenommen hat, erweisen sich
als unzuverlässig und geldgierig, sie vertrösten ihn immer wieder,
liefern aber nichts Konkretes, das Schicksal seiner Tochter bleibt
ungewiss. Nur in kleinsten Häppchen bekommt er von seinem
einheimischen Fahrer und anderen dubiosen Mittelsmännern dann nach
und nach Informationen über Naima. Man habe sie in einer Kolonie von
IS-Kämpfern mit Frauen aus westlichen Ländern ausfindig gemacht, die
im Neubaugebiet der Stadt Rakka zusammen wohnen. Murat bekommt immer
wieder mal Fotos, auf denen er aber nichts erkennen kann, weil die
junge Frau, die da fotografiert wurde, voll verschleiert ist, man
sieht nur ihre Augen. Später liefern die Schleuser ihm dann auch
Kassetten mit Aufnahmen aus einem Audio-Tagebuch, auf denen eine
Frauenstimme zu hören ist, die Murat jedoch ebenso wenig als die
seiner Tochter Naima identifizieren kann. Sie könnte es sein, aber
es gibt keine eindeutigen Hinweise, zum Beispiel typische
Redewendungen oder irgendwelche Bemerkungen, die auf ihre Vita
hindeuten.
Im Wesentlichen aber handelt der Roman vom
Warten, denn Murat kann selbständig nichts tun, und die Schleuser
lassen ihn zappeln, liefern nichts Konkretes, versichern aber mit
wachsender Zuversicht, dass die Frau, die sie im Visier haben, die
gesuchte Tochter ist. Diese zeitliche Leere, die der phlegmatische
Murat in einer wüstenähnlichen Landschaft verbringt, verleitet ihn
zu endlosen Reflexionen, insbesondere über die konkreten
Flucht-Ursachen seiner Tochter. Vor allem aber sinniert er über sein
Versäumnis, Naima nicht abhalten zu können von ihrem radikalen
Schritt, der wohl als innere Befreiung gedacht war. Der dann aber
tatsächlich in einem frauen-feindlichen, islamistischen Getto endet,
was sich auch Naima so sicherlich nicht hatte vorstellen können.
Obwohl also so gut wie nichts passiert in diesem
Roman, ist er doch prall gefüllt mit Gedanken, Beobachtungen,
Spekulationen, Mutmaßungen, zudem mit schier endlosen Beschreibungen
der unwirtlichen, kargen Landschaft. Gefüllt mit literarischen
Arabesken also, die sehr schnell langweilig werden, weil sie rein
gar nichts zum eigentlichen Thema beisteuern. Gerade weil nichts
passiert, wird man als Leser regelrecht auf die Folter gespannt,
erwartet man jeden Moment eine erlösende Wendung der verzwickten
Situation in diesem ‹lethargischen› Plot, auch und gerade dann, wenn
man irgendwann nur noch zehn, nur noch fünf, nur noch zwei Seiten zu
lesen hat. Uff! Und buchstäblich alles, was hier thematisch
angerissen wurde, bleibt offen. Antworten auf die aufgeworfenen
Fragen gibt es also nicht, die muss der Leser selber finden!
3*
lesenswert
- Bories vom Berg - 3. Juli 2024
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