DIE PASSAGIERIN
Nach zehn Jahren hat der Schriftsteller Franz Friedrich seinen zweiten Roman veröffentlicht, der dann, wie schon sein Debüt, ebenfalls für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 ausgewählt wurde. Es ist die ebenso originelle wie gewagte Kombination einer Dystopie mit einer sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft springenden Zeitreise für ausgesuchte Menschen. Ort der Handlung ist eine nach der antiken Landschaft Kolchis benannte, kleine Gemeinde am Meer, quasi ein Kurort für Zeitreisende. In dem befinden sich viele mit wunderlichen Namen benannte Sanatorien, die den, aus ihrer jeweils persönlich erlebten Zeit dorthin evakuierten Menschen eine neue Heimstatt bieten. Sie sind durch ihre Zeitreise ihrem historischen Schicksal entkommen und sollen jetzt auf ihr neues, besseres Leben vorbereitet werden. «Es ist ein großer Wartesaal, abgeschirmt wie unter einer Glocke, seiner Zeit entrückt», hat der Autor dazu erklärt.
Protagonistin und Ich-Erzählerin der Geschichte ist Heather, eine Frau aus der ehemaligen DDR, die dort groß geworden ist und dann 1989 die «Wende» miterlebt hat. Als Teenager war sie schon mal nach einer Zeitreise in Kolchis, nun kehrt sie als Erwachsene zurück. Heather leidet seit damals an «Phantom-Erinnerungen» und hofft, ihre innere Ruhe wiederzufinden und dem Schmerz der Einsamkeit zu entfliehen. Nun will sie nach etlichen Jahren ein paar Tage dort verbringen, - aber aus den Tagen werden Wochen. Ihr ehemaliges «Sanatorium 9» ist verfallen, nur wenige Räume sind noch bewohnbar, und das gilt auch für all die anderen Sanatorien und Gebäude in Kolchis, wie sie feststellen muss, alles ist scheinbar verlassen und dem langsamen Verfall anheim gegeben. Die Bewohner, die dort noch leben, stammen alle aus einer anderen historischen Epoche, dem Spätmittelalter zum Beispiel, der Zeit der Kolonialreiche, der Weltkriege, bis hinein in unsere Gegenwart. Sie alle warten auf eine Evakuierung, die sie aus Kolchis wieder wegbringen soll. Was aber niemand von ihnen ahnt: Die Rettungs-Missionen des Evakuierungs-Programms gibt es gar nicht mehr!
In täglichen Sitzungen mit wechselnder Besetzung diskutieren die Bewohner ‹über Gott und die Welt›, meist aber über ihre ganz persönlichen Geschichten. Es werden dabei natürlich auch die großen philosophischen Fragen verhandelt, speziell die nach der persönlichen Schuld. Dabei freundet sich Heather mit Matthias an, einem aus dem Mittelalter stammenden, verbitterten Landsknecht, der als ehemaliger Söldner hier offenbar den idealen Platz für sich gefunden hat. Im Interview hat der Autor sein ungewöhnliches narratives Konzept erklärt: «Die Idee treibt mich schon lange um: die Vorstellung einer Flucht aus der einen Zeit, der Rettung in eine andere. Sobald man länger darüber nachdenkt, wird man merken, dass es nicht reicht, Einzelne zu holen, aber alle? Als besonders tragisch erschien mir immer das Konzept einer nicht mehr veränderbaren Vergangenheit, einer Geschichte, die man zwar bereisen kann, aber einfach geschehen lassen muss, so grausam sie auch ist. Was würde das mit einer Gesellschaft machen, würde sie das hinnehmen? Oder würde sie nicht trotzdem versuchen, ihre historischen Katastrophen zu verhindern, so gering die Chancen auf einen Erfolg auch wären.»
Aus dem Gesagten kann man unschwer erkennen, dass man von diesem Roman Plausibilität nicht erwarten kann. Seine Figuren sind durch tragische Schicksale gekennzeichnet, wie vergessene Selbstmörder zum Beispiel oder Opfer kollektiver Gewalt. Nicht jeder wird dem in diesem Roman zum Ausdruck kommenden eigenwilligen Humanismus des Autors folgen können und wollen. Bei alledem verzichtet der Autor nämlich auch noch auf eine konkrete Beschreibung seiner kafkaesken Welt. Er setzt damit für eine bereichernde Lektüre eine allzu große Fantasie voraus, deutlich zu viele, naheliegende Fragen bleiben einfach offen. Das Gros seiner Leser dürfte, erheblich überfordert, daran kläglich scheitern, - einige wenige Distopie-Fans ausgenommen!
1* miserabel - Bories vom Berg - 16. November 2024
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