EIN UNTADELIGER MANN
2015 ist erstmalig ein Roman der inzwischen 87jährigen britischen Autorin Jane Gardam auf dem deutschen Buchmarkt publiziert worden, - daheim wird sie von ihren treuen Lesern schon lange geradezu hymnisch verehrt. «Ein untadeliger Mann» ist Teil einer Trilogie und deutet bereits im Titel auf die Problematik hin, die der Roman behandelt, die Diskrepanz zwischen idealisiertem Habitus eines Mannes und seiner in der Regel weit weniger widerspruchsfreien seelischen Realität, die so gar nicht untadelig ist, aber bestens kaschiert wird. Der vorliegende Roman, dessen Erscheinen die Schriftstellerin in Deutschland überhaupt erst bekannt gemacht hat, wird allenthalben gefeiert, nicht nur als Neuentdeckung.
Edward Feathers, ehemaliger Kronanwalt in Hongkong mit legendärem Ruf, der ihm den etwas gehässigen Spitznamen Old Filth eingetragen hat, Akronym für Failed In London Try Hongkong, ist mit seiner Frau Mitte der neunziger Jahre nach England zurückgekehrt. Das kinderlose Paar lebt sehr zurückgezogen auf dem Land in Dorset in einem komfortablen Ruhestand, als Betty plötzlich stirbt. In der unerwartet entstandenen Leere beginnt der mehr als achtzigjährige Sir Edward, sein Leben kritisch zu überdenken, sucht wieder den Kontakt zu alten Weggefährten, unternimmt sogar noch weite Reisen, um sie wiederzusehen. Diese in der Jetztzeit angesiedelte Rahmenhandlung wird ausgefüllt von zahlreichen Rückblenden bis in die Zeit des British Empire, angefangen von Eddies Geburt in Malaysia, bei dem seine Mutter starb, über seine Jugend bei einer eingeborenen Ziehmutter, bis ihn schließlich der Vater nach England zu einer Pflegefamilie schickt, damit aus ihm ein richtiger Engländer wird. Seine traumatischen Erlebnisse dort enden erst, als er aufs Internat kommt, wo er einen Freund findet, dessen Familie ihn wie einen eigenen Sohn annimmt. Der Zweite Weltkrieg zerstört diese Bindungen, Edward absolviert anschließend mit besten Noten sein Oxford-Studium als Jurist, verliert jeden Kontakt zu seinem Vater, den er als Fünfjähriger zuletzt gesehen hatte, und geht schließlich, als er in London keine Karrierechancen für sich sieht, nach Hongkong, wo er zu Ansehen und Reichtum gelangt und auch seine Frau findet.
Die Autorin hat ihren Roman den Raj-Waisen gewidmet, die wie Eddie als kleine Kinder von ihren in den Kolonien lebenden Eltern nach England geschickt wurden, um dort die Schule zu besuchen, man nannte sie auch Empire-Waisen. Dass in dieser familiären Konstellation die Ursache schwerer Traumata begründet ist, liegt auf der Hand. Der stets die Contenance wahrende Sir Edward jedenfalls ist im Innersten zerrissen, hat vieles aus seinem Leben nicht verarbeitet und versteckt seine psychische Unsicherheit hinter einer snobistischen Fassade. Mit viel Empathie deckt die Autorin Schicht um Schicht das Innerste ihres Helden auf, legt anschaulich die seiner Bindungsunfähigkeit und Asexualität zugrunde liegenden emotionalen Defizite bloß.
Der Plot wird sprachlich kreativ in gut durchdachten, immer wieder Ort und Zeit wechselnden Kapiteln erzählt, die zumeist von realistisch wirkenden Dialogen getragen werden, wobei die Figuren glaubhaft charakterisiert sind und durchaus sympathisch wirken, allesamt very british natürlich. Es gelingt der Autorin mit einer ebenso lockeren wie klaren Sprache, zwei Weltkriege und andere Desaster in ihre Handlung einzubinden, ohne dass ihre Geschichte jemals elegisch zu werden droht. Der von seiner Thematik her nicht gerade neue Erzählstoff von den Brüchen im Leben und den verpassten Gelegenheiten bietet dem Leser ganz nebenbei auch einige Einblicke in historische Zusammenhänge. Für nicht anglophile Leser wie mich anfangs zäh zu lesen, kommt der Roman in der zweiten Hälfte etwas mehr in Fahrt, erfordert jedoch der fragmentarischen Erzählweise wegen einiges an Aufmerksamkeit. Alle rundum begeisterten Leser aber dürfen sich auf den nächsten Band der Trilogie freuen, der im kommenden Frühjahr erscheinen soll.
3* lesenswert - Bories vom Berg - 29. Dezember 2015
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