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LAURENT GAUDÉ

 

DIE SONNE DER SCORTA

 

High Noon

 

Für seinen dritten Roman «Die Sonne der Scorta» erhielt Laurent Gaudé 2004 den Prix Goncour. In dem wie ein Prolog vorangestellten Gedicht von Cesare Pavese klingen bereits die Themen Schweigen, Einsamkeit, Wahnsinn und Sonne an, die diesen fünf Generationen umfassenden Roman über eine italienische Familie ebenfalls prägen. Und auch hier steht das Motiv der Heimat als ‹angeborene› Identität des Menschen im Zentrum eines Geschehens, das insbesondere durch die archaische Lebensweise seiner Figuren bestimmt wird.

 

Es beginnt mit einem Paukenschlag. Im Jahre 1875 kehrt der nach 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassene Verbrecher Luciano in sein Heimatdorf auf dem Gargano in Apulien zurück. In einer an den Western «High Noon» erinnernden, vor Spannung knisternden Szene reitet er in glühender Mittagssonne durch das während der Siesta menschenleere Dorf, um das zu tun, wovon der Halunke sein Leben lang geträumt hat: Er will unbedingt einmal Sex mit Filomena haben, der Frau seiner Träume. Danach werden ihn die Leute töten, das weiß er, aber es ist ihm völlig egal, er hat mit dem Leben abgeschlossen. Sie öffnet ihm die Tür und gibt sich ihm widerstandslos hin. Demonstrativ knöpft er seine Hose erst zu, als er nach der Siesta aus dem Haus tritt, so dass alle es sehen können. Er wird von den erbosten Männern gesteinigt, aber bevor er das Bewusstsein verliert, hört er eine Frau schreien: «Immacolata ist die letzte Frau, der du Gewalt angetan hast». Es war die Schwester, mit der er geschlafen hat, Filomena ist schon lange tot!

 

Immacolata wird schwanger, bringt Rocco zu Welt und stirbt im Kindbett. Der Pfarrer rettet das Neugeborene vor den erzürnten Dorfbewohnern, die es als Frucht des Bösen gleich der Mutter mit in den Sarg legen wollen. Rocco wird in einem Nachbardorf aufgezogen und entwickelt sich zu einem Schwerverbrecher, der aber, anders als sein Vater, zu großem Wohlstand kommt und, deshalb allseits geachtet, eine Familie gründet. Als er stirbt, hinterlässt er sein gesamtes Vermögen der Kirche und stürzt Frau und Kinder damit in bitterste Armut. Über fünf Generationen hinweg erlebt dieser Familienclan einen Rückschlag nach dem anderen. Sei es die erst auf Ellis Island scheiternde Auswanderung der Kinder oder der in einem irren Akt der Verzweifelung eigenhändig niedergebrannte Zigarettenladen, das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen, sie scheinen mit einem Fluch beladen zu sein. Aber ihr Lebenswille lässt sie unbeirrt voranschreiten, allen Widrigkeiten zum Trotz. Der Autor entwickelt in den zehn Kapiteln seiner wechselvollen Geschichte ein archaisches Bild vom armseligen Leben auf dem Lande, das einen harten Menschenschlag hervorbringt. Seine lebensprallen Figuren sind anschaulich beschrieben und wirken selbst als Ganoven sympathisch. Und dies vor allem in den Dialogen, die in ihrer Gedankenfülle und Lebensweisheit einen deutlichen Kontrast bilden zu den Brutalitäten des entbehrungsreichen Daseins.

 

Als zweite Erzählebene bindet der Autor immer wieder Gespräche mit dem Dorfpfarrer in seine Geschichte ein, die das Geschehen aus einer persönlichen Perspektive kurzgefasst wiederholen und in unterschiedlichen Aspekten tiefer gehend deuten. Die Sinnfrage steht im Zentrum aller Gespräche, in dieser Familie ist eine latente Todes-Sehnsucht spürbar. Der Urahn lässt sich widerstandslos steinigen, einer seiner Enkel lässt sich als Schmuggler aufs Meer hinaus treiben und wird nie wieder gesehen. In der bitteren Armut scheint Geld der Heilsbringer zu sein, aber es erweist sich als ebenso trügerisch wie das Schicksal selbst. In diesem Roman fungiert eine ganze Familie als Protagonist, ihr Weiterleben von Generation zu Generation folgt dem Lauf der Natur, was der Pfarrer am Beispiel der Oliven verdeutlich, von denen das Dorf lebt und die, alljährlich wiederkehrend, ewig existieren. Dieser neorealistisch erzählte Roman stellt mit seiner gedanklichen Tiefe eine gleichermaßen unterhaltende wie bereichernde Lektüre dar.

 

5* erstklassig - Bories vom Berg - 9. Juni 2021

 

 

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