WILHELM
GENAZINO
DIE
LIEBESBLÖDIGKEIT
Liebe
in einer verhunzten Welt
Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino hat mit
seinem Roman «Die Liebesblödigkeit» einen Buchtitel kreiert, der
geradezu typisch ist für seine überwiegend resignativ geprägten
Romane, in denen es immer auch um die Liebe geht als schier
unerschöpflicher Erzähl-Fundus. Das vorliegende Buch handelt von der
Beziehung seines Ich-Erzählers zu zwei Frauen, deren Ansprüchen er
sich als alternder Liebhaber auf Dauer nicht gewachsen fühlt. Von
einer sollte er sich trennen, aber von welcher?
Als freiberuflicher Apokalypse-Spezialist
unterhält der 52jährige Protagonist schon jahrelang intime
Beziehungen zu Judith, einer gleichaltrigen Pianistin, die recht und
schlecht von Klavierunterricht und Nachhilfestunden lebt, aber
gleichzeitig auch zu der neun Jahre jüngeren Chef-Sekretärin Sandra.
Bisher lief alles bestens in dieser Ménage-à-trois, in der die
Frauen natürlich nichts voneinander wissen und ihr Geliebter es sich
gut gehen lässt. Warum, lautet sein Credo, soll man als Kind
Vater und Mutter gleichermaßen lieben können, zwei Frauen
gleichzeitig aber nicht? Als Hypochonder entdeckt er ständig
neue, altersbedingte Veränderungen an seinem Körper, zu denen zum
Beispiel auch Krampfadern gehören. Als der Arzt ihm neben einem
Medikament auch Stützstrümpfe verschreibt, passt das so gar nicht zu
seinem Selbstverständnis. Die sexuell sehr aktive Sandra, die ihn zu
diesem Arzt geschickt hat, überrascht ihn mit einer kühnen
Konstruktion an ihrer Schafzimmertür. Rechts und links hat sie je
einen Getränkekasten hingestellt, auf die sie sich optimal zum
Beischlaf draufstellen kann, während er sie in einer Krampfader
schonenden Stellung beglückt. Aber seine erkennbar nachlassende
Libido führt auch zu sexuellen Versagensängsten, die ihn permanent
umtreiben. Andererseits kann er sich beim besten Willen jedoch nicht
vorstellen, auf eine der liebevollen Damen zu verzichten, er hat
sich sein Leben mit den beiden sehr kommod eingerichtet. Als ihm
Sandra einen Heiratsantrag macht und auf die finanziellen Vorteile
hinweist, die er als Freiberufler ohne eigene Rentenansprüche durch
die Witwenrente später hätte, stellt er resigniert fest, dass eine
Ehe für ihn absolut undenkbar wäre.
Die Figuren des Romans sind unauffällige
Alltagstypen aus der Mittelklasse. Der namenlose Romanheld ist als
Seminarleiter mit seinen Apokalypse-Vorträgen sehr beliebt und hat
einen guten Kontakt zu den meist älteren Teilnehmern. Wie auch in
anderen Romanen von Wilhelm Genazino sind hier immer wieder Passagen
eingebaut, in denen der Held durch die Stadt streift und
alltägliche, banale Szenen beobachtet, die er in schnellem Wechsel
detailgenau beschreibt. Es ist das «signifikant Insignifikante», wie
James Wood es genannt hat, das hier zu stets neuen, überraschenden
Einsichten führt, als Flaneur erkennt der intellektuelle Erzähler
scharfsichtig das Besondere im Allgemeinen. Gesellschaftskritisch
konstatiert er einen zunehmenden «Freizeit-Faschismus», der die
Köpfe bewusst vernebelt und zu einem ungebremsten
Konsum-Fetischismus hinführt. Äußerst skeptisch sieht er auch die
«frei schwebenden Intellektuellen», die im Roman auftreten, von ihm
spöttisch Panikberater, Ekelreferenten oder Schockforscher genannt.
Ihm erscheint die moderne Welt mit ihren absurden
Automatisierungs-Zwängen schlicht als «verhunzt», seine in dieser
irrealen Welt herumirrenden Figuren seien einer «zynische
Inszenierung» ausgesetzt. Der Held selbst aber registriert all dies
mit stoischer Gelassenheit.
Es wird chronologisch aus der Ich-Perspektive und
im Präsens erzählt, wobei die Sprache mit allerlei Redewendungen und
Bonmots angenehm aufgelockert ist. Sehr viele der kontemplativen
Erkenntnisse des ständig sinnierenden, selbstkritischen
Protagonisten sind erkennbar ironisch gemeint, andere wiederum regen
zum eigenen Nachdenken an. Als Satire über die Liebe in einer
verhunzten Welt ist dieser Roman eine amüsante Lektüre, die auch
einiges an Tiefgang bietet.
4* erfreulich -
Bories vom Berg - 23. Dezember 2021
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