OPERNBALL
Ein Möglichkeitsraum wird Realität
Geradezu prophetisch hat der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger in seinem 1995 erschienenen Roman «Opernball» beschrieben, was nun tagesaktuell von den Medien als bittere Realität verkündet wird, das beängstige Erstarken eines nationalistisch verblendeten, gewaltbereiten Mobs, dem der Staat auf der Straße fast hilflos gegenüber steht wie jetzt in Chemnitz. «Warum … haben wir nicht rechtzeitig die Zügel in die Hand genommen? Diesem Gesindel die Stirn geboten? Mit eisernen Schlägen vernichtet, was noch nicht hoffungslos zerrissen war? Warum haben wir nicht aufgeräumt? Entrümpelt? Das Unkraut ausgerissen, solange es noch klein war?» Der selbstkritische Wiener Polizeipräsident findet deutliche Worte in einer Rede bei der Vereidigung von Revierleitern nach der Opernball-Katastrophe. «Ein Recht ohne Macht sei zum Untergang verurteilt und stürze den ganzen Staat in den Abgrund», heißt es weiter in einer Art Vorwort zu diesem grandiosen Politthriller.
Brutal wird der Leser gleich auf den ersten paar Seiten mit einem bis dato für undenkbar gehaltenen Terroranschlag einer rechtsradikalen Verschwörergruppe konfrontiert, ein von einem Privatsender europaweit live übertragener Massenmord, dem tausende Menschen zum Opfer fallen, neben der alljährlich wie immer dort vollzählig versammelten, snobistischen High Society der Alpenrepublik auch die gesamte politische Prominenz Österreichs. Der in wenigen Minuten eintretende, qualvolle Tod der vielen Menschen beim Opernball wird durch Blausäure verursacht, die, über das Belüftungssystem im Gebäude verteilt, sehr schnell wirksam wird. Dieses grausige Szenario erinnert fatal, - aber bestimmt nicht zufällig -, an den Massenmord mit Zyklon B in den KZs der Nazis. Die von einem - als der «Geringste» bezeichneten – rechten Guru angeführte, neunköpfige Terrorgruppe leitet ihre Heilslehre und ihre «Ausländer raus»-Ideologie gleichermaßen aus der Bibel und «Mein Kampf» ab, der eschatologisch begründete Anschlag wird als Hamargedon herbeigesehnt, ein neues Tausendjähriges Reich würde entstehen.
Josef Haslinger hat seinen pseudo-dokumentarischen Plot multiperspektivisch konstruiert, erzählt wird aus den Blickwinkeln des TV-Regisseurs, der mit der Leitung der Live-Übertragung betraut ist, ferner eines Polizisten, der vor der Oper gegen die Demonstranten eingesetzt wird, schließlich von einem als «Ingenieur» bezeichnetem Mitglied der Terrorgruppe, in kürzeren Kapiteln aber auch aus der Perspektive einer Hausfrau und eines Brotfabrikaten. Geschickt werden dabei die Geschichten seiner Figuren vor und nach dem Anschlag verwoben, wobei er die Fäden der Handlungsstränge in seinem narrativen Netz gekonnt miteinander verknüpft. Die immer eindeutig zuzuordnenden Orts- und Zeitsprünge der einzelnen Kapitel werden zum Teil in Form protokollartiger Aufzeichnungen erzählt, die durchaus spannungsgeladen sind, obwohl das dramatische Ereignis dem Leser ja gleich am Anfang schon bekannt wird. Wie es dazu kam, das also ist hier das Spannende!
Balkankriege, KZs, Drogensucht, Polizeifrust, Migrationsdruck, politische Ränkespiele, sensationslüsternes Privatfernsehen, dunkle Geschäfte mit Osteuropa, schreiendes soziales Unrecht sind Themen dieses Romans, aber auch die glücklichen Zufälle, die einige wenige davor bewahrt haben, im Opernhaus zu sein, weil sie zu spät eintrafen wie die berühmte Operndiva, oder die aus letztendlich glücklichen Umständen den Ball früher verlassen mussten. Der Roman ist das beklemmende Sittenbild eines latent rechtsgesinnten Staates, die sechs Jahre vor 9/11 angesiedelte, brutale Geschichte hat sich als hellsichtige Beschreibung eines Zustands erwiesen, dessen inzwischen bewiesene Realität weit bedrückender ist als die fiktionale Geschichte selbst, die der Autor seinen Lesern da thrillergerecht auftischt. Es sei per se Aufgabe der Fiktion, einen Möglichkeitsraum auszuleuchten, hat Haslinger dazu angemerkt. Das ist ihm fürwahr gelungen!
4* erfreulich - Bories vom Berg - 8. September 2018
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