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MARTINA HEFTER

 

HEY GUTEN MORGEN;

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WIE GEHT ES DIR?

 

Love-Scammer vs. Performerin

 

Die Gewinnerin des diesjährigen Deutschen Buchpreises, die Schriftstellerin und Performerin Martina Hefter, hat mit ihrem Roman «Hey guten Morgen, wie geht es dir» einen zeitgemäßen Text vorgelegt, über den es in der Begründung der Jury heißt: «Auf faszinierende Weise verbindet der Roman zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung». Dieser autobiografisch inspirierte Roman ist nicht an einem roten Faden entlang erzählt, er folgt vielmehr einer Choreografie, in der seine vielfältigen Themen wie Tanzfiguren kreativ miteinander verbunden sind in einer mitreißenden Performance. Dabei fungiert die Problematik des Scammer-Unwesens als narratives Gerüst für Motive wie Würde, Nähe, Bedürfnisse, Anerkennung, Identität, Sehnsüchte, Alter und Krankheit, aber auch der Kolonialismus wird thematisiert am Beispiel Nigerias.

 

Juno Isabella Flock, Freelancerin Mitte fünfzig, lebt in prekären Verhältnissen mit ihrem kranken Mann Jupiter, einem Schriftsteller, in einer kleinen Altbauwohnung in Leipzig. Sie pflegt Jupiter zwar liebevoll, geht dieser Aufgabe aber mit wachsender Unlust nach. Weil sie unter Schlaflosigkeit leidet, hat sie auf ihren Streifzügen durch das Internet die Szene der Love-Scammer entdeckt, die virtuelle Form der Heiratsschwindler. Denen es erstaunlich oft gelingt, ihre unbedarften Opfer finanziell auszubeuten, wie eine Doku in «Spiegel-online» belegt, aus der im Roman berichtet wird. Aus Langeweile, Neugier und zum Trotz hat sie sich auch ein anonymes Profil angelegt, unter dem sie als vermeintlich lohnendes Opfer auftritt. Sie macht sich einen Spaß daraus, die schamlosen Betrüger anzulocken und ihnen dann irgendwann knallhart auf den Kopf zuzusagen, dass sie Scammer sind, und dass sie selbst eine Frau ist mit viel Zeit und wenig Geld. Bis sie auf Benu trifft, den sie zwar ebenso durchschaut, bei dem sie aber zögert, ihn bloßzustellen, weil er nicht so großspurig auftritt und irgendwie immer die richtigen Worte findet. Und der dann auch nicht den Kontakt abbricht, als sie ihm die Wahrheit sagt. Gleichwohl aber bleiben seine Absichten nebulös.

 

Ihr Chat zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung, immer wieder unterbrochen von Anmerkungen und Rückblenden auf das Leben der Protagonistin. Jupiter weiß natürlich nichts von ihrem nächtlichen Internet-Doppelleben, sie haben wegen Junos Schlaflosigkeit schon lange getrennte Schlafzimmer. Die virtuelle Beziehung zwischen Juno und Benu weist exemplarisch auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Europa und Afrika hin, verdeutlicht aber auch die Diskrepanzen zwischen den individuellen Erwartungen und Hoffnungen der Beiden. Die ebenso poetische wie humorvolle Schilderung der Alltagsrealität von Juno wird durch allerlei mythisch gedeutete Begebenheiten ergänzt. Dazu gehört auch das von Jupiter gebastelte Bienen-Hotel auf dem Fensterbrett, wo denn auch prompt zur Freude des Paares eine Wildbiene einzieht. Schon die Namen Juno und Jupiter weisen ja auf die Götterwelt hin, und auch dem Stand der Gestirne gilt immer wieder Junos ungeteilte Aufmerksamkeit. Als Zeichen ihrer Suche nach Identität beginnt sie, sich Tattoos stechen zu lassen, auf die sie sehr stolz ist. Ihr Internet-Spiel mit Benu, diese Täter-Opfer-Umkehrung, hilft ihr beim Aggressionsabbau. Es hilft ihr aber auch, sich ihrer Würde bewusst zu werden, auch wenn die menschliche Existenz hier als permanenter Hindernislauf dargestellt wird in einem unsteten Leben, oft am Existenzminimum.

 

Ein trotziger Optimismus, frei von Pathos, kennzeichnet die einfach gehaltene Sprache des Romans, mit der die alltägliche Monotonie im Leben von Juno stilistisch gekonnt verdeutlicht wird. Die Charaktere von Benu, aber auch von Jupiter bleiben im Ungefähren, sie sind quasi Nebenfiguren in diesem Roman der Selbstfindung einer Künstlerin in Zeiten von Ukrainekrieg und anderem Ungemach. Mehr ‹heutig› kann ein Roman kaum sein!

 

4* erfreulich - Bories vom Berg - 20. Oktober 2024

 

 

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Blowwind

Die Kunst Hefters - in meinen Augen - besteht darin, die Abwesenheit einer Handlung auf 200 Seiten zu verteilen. Eine Handlung, die eigentlich auf der Stelle tritt.

 

Antwort

Danke für Ihren Kommentar! Unter den zwanzig Büchern der diesjährigen Longlist, die ich bis auf drei alle gelesen und bewertet habe, ist für mich Hefters Roman bisher der beste. Er ist handlungsarm, das sehe ich auch so, ich habe ihn mehr als Performance gelesen, als Choreografie quasi vielfältigster Themen.

 

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