VATI
Der für den diesjährigen Frankfurter Buchpreis nominierte Roman der österreichischen Schriftstellerin Monika Helfer mit dem Titel «Vati» ist eine Fortschreibung ihres erfolgreichen Erinnerungs-Bandes vom Vorjahr. Hatte sie in «Bagage» von ihrer Mutter und den Großeltern erzählt, so widmet sie sich in dem aktuellen Roman nun aus der Perspektive als Kind und Jugendliche ihrem Vater. «Wir sagten Vati. Er wollte das so. Er meinte, es klinge modern» heißt es gleich zu Beginn, wodurch der altbacken klingende Romantitel entschuldigt ist. Denn er trägt mit dazu bei, diesem literarischen Denkmal für den Vater einiges an Authentizität zu verleihen.
Der aus einfachsten Verhältnissen stammende Josef Helfer kam als Invalide aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, im russischen Winter war ihm ein Bein erfroren. Der Unterschenkel musste amputiert werden, seither trägt er eine Prothese. Man gibt dem traumatisierten jungen Mann eine Stelle als Verwalter eines auf der Tschengla in Vorarlberg gelegenen Erholungs-Heims für Kriegsversehrte, das von einem Stuttgarter Verein betrieben wird. Josef heiratet und bekommt vier Kinder. Schon als Kind war Josef sehr lernbegierig, er brachte sich noch vor der Schule selbst das Lesen und Schreiben bei und wurde deshalb vom Vater eines Klassen-Kameraden gefördert. Der gewährt ihm exklusiv Zugang zu seiner wertvollen Privat-Bibliothek, die 1324 von ihrem stolzen Besitzer nie gelesene Bücher enthielt. Immer mehr entwickelt er sich dort zu einem Bibliophilen. In dem Heim, das er dann nach dem Krieg verwaltet, findet er voller Freude ebenfalls eine Bibliothek vor, die dem Betreiber-Verein von einem Tübinger Professor vermacht worden war, die von den Gästen aber nie genutzt wurde. Er entwickelt sich allmählich zum Bibliomanen und beginnt, als eine Umwandlung des Heims zu einem Hotel bevorsteht, geradezu zwanghaft die Bestände der Bibliothek beiseite zu schaffen. Als eine Kommission zu einer Übergabe-Inventur anreist und er befürchtet, dass die entstandenen Lücken im Bücherbestand anhand der notariellen Schenkungs-Urkunde zwangsläufig aufgedeckt werden, nimmt er Gift. Er wird zwar gerettet, hat sich nun aber unwiderruflich von seiner Familie entfernt, die paradiesische Zeit der Familie auf dem idyllischen Bergplateau endet abrupt.
In ständigen Zeitsprüngen erzählt Monika Helfer im Wechsel vorausschauend oder rückblickend real Erinnertes aus ihrem Leben, durchmischt mit fiktional Ergänztem. Dabei bleibt «Vati» als zentrale Figur weiterhin dominant, auch wenn er nach langer Genesungszeit jetzt im Kloster lebt und sie ihn fast nie sehen. Die Geschwister sind nach dem frühen Krebstod der Mutter ganz auf sich allein gestellt und werden auf die ‹Bagage› verteilt, sie leben fortan getrennt voneinander bei den Verwandten. Die Autorin hadert nicht mit ihrem Schicksal, sie versucht mit ihrer Erinnerungs-Arbeit zu sich selbst zu finden. Ihre Seelenverwandtschaft zum Vater kommt zum Ausdruck, wenn sie sich zum Beispiel daran erinnert, wie er die ersten zwei Bücher in die Hand genommen hat, auf denen ihr Name steht, Das hatte ihn sichtlich sehr stolz gemacht, denn er war es ja, der die Liebe zur Literatur in ihr geweckt hat.
Mit ihrer assoziativen, charmant österreichisch gefärbten Erzählweise erzeugt die Autorin ein stimmiges Ambiente für die Erinnerungs-Splitter, mit deren Hilfe sie nicht nur ihren Vater, sondern auch die damaligen Zeiten zu verstehen sucht. Ihre Bagage, der große Familienclan, besteht aus oft allzu überschwänglich gezeichneten Figuren, die als amüsante Charaktere jedoch immer wieder mal Anlass zum Schmunzeln geben. Es wird psychologisch nichts analysiert in diesen fiktional üppig angereicherten Erinnerungen voller Leerstellen, deren Stoff als solcher nichts wirklich Neues bietet. Es bleibt als Benefit für den Leser der diskrete Umgang mit den Fakten und deren sensible Einbettung in einen angenehm lesbaren Plot, der diesem beliebten literarischen Genre ein weiteres Buch hinzufügt.
2* mäßig - Bories vom Berg - 4. September 2021
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