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HEINZ HELLE

 

DIE ÜBERWINDUNG

 

DER SCHWERKRAFT

 

Vertreibung aus dem Paradies

 

Über nicht weniger als über das Dasein an sich schreibt Heinz Helle in seinem dritten Roman, unter dem ironischen Titel «Die Überwindung der Schwerkraft» zudem. Es sind die ewigen Fragen der Menschheit, die hier literarisch aufbereitet werden in einer Geschichte zweier Brüder, wobei die Philosophie im Fokus steht, gekonnt verknüpft mit einer eher beiläufigen Handlung. Die fungiert hier quasi als Plattform, als Stichwortgeber für das Feuerwerk an Gedanken, das der Autor, der mit einer philosophischen Dissertation über Bewusstsein promoviert hat, da wagemutig abbrennt, unser Dasein in vielen Facetten kritisch hinterfragend. Ganz nebenbei demaskiert er auch die Seele seines tragischen Helden in dieser tiefschürfenden gedanklichen Exkursion.

 

«Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb» lautet der erste Satz des namenlos bleibenden Ich-Erzählers, er ist zehn Jahre jünger gewesen als sei Halbbruder. Weil der gemeinsame Vater einst die Mutter des älteren Sohnes wegen seiner eigenen Mutter verlassen hatte, quälen ihn Schuldgefühle seinem depressiven Halbbruder gegenüber, er verdanke seine Existenz dem Unglück des Älteren, glaubt er. Es war viel Alkohol im Spiel vor sieben Jahren, bei der bierseligen Odyssee der beiden ungleichen Halbbrüder durch das winterliche München. Eine nächtliche Sauftour von Kneipe zu Kneipe als ebenso widerwilliger wie vergeblicher Versuch des jüngeren, die Selbstzerstörung des haltlos gewordenen älteren Bruders aufzuhalten. In den dichten Rauchschwaden ihrer scheinbar archetypisch dazugehörenden Zigaretten versuchen sie, geistig den Durchblick zu behalten, trotz der Unschärfe der menschlichen Existenz alles möglichst kristallklar zu sehen. Bei den ausufernd langen Monologen des Älteren, die gut die Hälfte des Erzählstoffes ausmachen, geht es um die ewigen Menschheitsthemen. Gleichzeitig offenbart sein sich stetig verschlimmerndes Delirium während dieses ephemeren Alkoholexzesses auch überdeutlich sein menschliches Elend. Der Ziellosigkeit seines Studiums mit abgebrochener Promotion folgte eine unstete Berufstätigkeit als Konsequenz aus seinen permanenten Skrupeln und schließlich ein trostloses Ende in prekären Verhältnissen, auch privat. Er sieht sich als werdender Vater, wobei die werdende Mutter eine Prostituierte ist und seine Vaterschaft mehr als zweifelhaft erscheint, beides aber stört ihn überhaupt nicht in seiner inzwischen manifesten Lethargie. Nach ihrer Zechtour sehen sich die Brüder nie mehr wieder, sie telefonieren zwar noch einmal kurz, ehe der jüngere dann, sieben Monate später, die Nachricht vom Tode des älteren erhält, eine heimtückische Krankheit hat ihn dahingerafft.

 

Das Mirakel um die Gnadenlosigkeit der Existenz wird im Roman durch das stete Forschen des älteren Bruders befeuert, Nachrichten von Unglücken ziehen ihn geradezu magisch an. Immer wieder kommt er in seinen referierenden Monologen auf den Fall Marc Dutroux in Belgien zurück, über den er alles gelesen hat, oder auf die unsäglichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. In endlosen philosophischen Eruptionen ist da von kulturellen, politischen, soziologischen oder historischen Phänomenen die Rede. Er habe manchmal das Gefühl gehabt, formuliert der Bruder, als wäre «die Gesamtheit der menschlichen Kultur nur eine Reihe konzentrisch angelegter Schutzwälle um ein schreckliches Geheimnis, dessen Entdeckung einst den Beginn der Menschheit markierte, die Abspaltung des Menschen vom Affen und damit von der Natur, die Vertreibung aus dem Paradies, wenn man so will …»

 

Erzählt wird all dies retrospektiv in einem einzigen, monolithischen Textblock, in souverän formulierten, ellenlangen Schachtelsätzen zudem, denen man gleichwohl stets mühelos folgen kann. Der anregend kontemplative Erzählstoff wird präzise und wunderbar stimmig größtenteils in indirekter Rede wiedergeben, man kann sich dem imaginativen Zauber dieser Geschichte kaum entziehen als Leser.

 

4* erfreulich - Bories vom Berg - 3. März 2019

 

 

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