TSCHICK
«Tschick» heißt der Roman, der 2010 den schriftstellerischen Durchbruch für Wolfgang Herrndorf brachte, mit Millionenauflage und lang anhaltender Platzierung auf den Bestsellerlisten. Die nach einem der beiden Protagonisten benannte Coming-of-Age-Story ist mit Jugendroman nur unzureichend klassifiziert. Was die Zielgruppe anbelangt, dürften die meisten der begeisterten Leser die Adoleszenzphase längst hinter sich haben, die Thematik dieses Romans geht andererseits aber auch weit über das für Jugendliche als Lesestoff so anziehend Abenteuerliche hinaus, sie bietet wenig Sensation und Action, wie sie reizüberflutete Kids heute nun einfach mal erwarten.
Der Plot ist kunstvoll aufgebaut und beginnt mit dem Ende einer Ausreißertour, die Maik und Tschick, zwei 14jährige Klassenkameraden aus ganz unterschiedlichem Milieu, während der großen Ferien spontan in einem gestohlenen Lada unternehmen. Ich-Erzähler Maik ist wohlstandsverwahrlost, oft sich selbst überlassen, die Mutter Alkoholikerin, der Vater Unternehmer hart am Rande des Bankrotts, er betrügt die Mutter ungeniert mit seiner jungen Assistentin. Tschick, aus einer russlanddeutschen Familie stammend, in prekären Verhältnissen in einem Plattenbau am Rande Berlins lebend, hat die Idee zur «Reise», er ist auch derjenige, der als geübter Autoknacker den Lada «besorgt». Beide werden als Außenseiter von den anderen Schülern ignoriert, sind nicht zu Tatjanas Geburtstagsparty eingeladen wie all die anderen, empfinden das als Demütigung und wollen nur noch weg. In die Walachei, zu seinem Opa, schlägt Tschick vor. In einer Rückschau wird von dieser odysseeartigen Reise während der großen Ferien berichtet, die etwa eine Woche dauert. Und die natürlich allerlei Überraschungen birgt, die Jungs immer wieder in haarsträubende Situationen bringt, wo sie nicht weiterwissen. Erstaunlicherweise finden sich aber auch fast immer Menschen, die helfen, die ganz OK sind. «Seit ich klein war, hat mein Vater mir beigebracht, das die Welt schlecht ist. […] Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war».
Heraus aus dem Einflussbereich der Erwachsenen, die weite Reise ins Unbekannte, der Beengtheit des eigenen kleinen Welt entfliehen, das waren die Motive, die der Autor bei einer Rückbesinnung auf seine eigene Jugend fand als Auslöser für derartige Abenteuerlust, wie er in einem Interview erklärte. In einer wunderbar stimmigen Sprache hat er den Jargon der Jugend getroffen, ohne ins Vulgäre, Unverständliche abzugleiten. Er hat behutsam, fast unmerklich, sein tieferes Wissen in die naive Gedankenwelt von Maik einfließen lassen, andererseits dessen noch unverdaute Eindrücke und Erlebnisse ironisch in die Erzählung eingebaut - und erzeugt damit oft große Heiterkeit beim Leser. Denn meist sind es die Erwachsenen, die da eulenspiegelhaft vorgeführt werden und sich lächerlich machen. Es liegt ein guter Teil des Lesespaßes darin, die Welt einmal aus dieser unverdorbenen Perspektive zu betrachten, auch lassen sich erstaunliche Erkenntnisse daraus gewinnen.
Mit Freundschaft, Liebe, Treue, Eifersucht, Hilfsbereitschaft, Ausgrenzung, Einsamkeit, Krankheit und Tod berührt der Roman viele Themenbereiche unseres Lebens, macht nachdenklich, auch wenn das turbulente Geschehen dominiert. Kein Wunder übrigens, dass eine Verfilmung schon in Arbeit ist, der Stoff schreit geradezu danach. Vieles im Roman entwickelt sich aus stimmigen Dialogen, wobei die lebensnahen Figuren allesamt sympathisch wirken. Diese positive Grundstimmung und der rasante Plot macht es dem Leser schwer, das Buch aus der Hand zu legen, ich jedenfalls habe es in einem Rutsch durchgelesen. Leichte Kost sicherlich, aber nicht niveaulos, Urlaub vom Alltag, um den Kopf mal frei zu bekommen von dem vielen Negativen, das medial pausenlos auf uns einwirkt.
3* lesenswert - Bories vom Berg - 14. Mai 2016
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