WOLFGANG HILBIG
ICH
Schattendasein im Gänsefüßchenstaat
Unter dem Titel «Ich» erschien 1993 der bekannteste Roman des
Büchner-Preisträgers Wolfgang Hilbig, womit bereits angedeutet wird, dass es
sich dabei um eine Identitätssuche handelt. Der aus dem Arbeitermilieu der DDR
stammende Schriftsteller beschreibt am Beispiel eines erfolglosen Lyrikers, der
sich zum Spitzel hat anwerben lassen, die irrwitzige Nachrichten-Sammelwut des
Ministeriums für Staatssicherheit im einzigen Arbeiter- und Bauernstaat auf
deutschem Boden. Seinem erklärten Vorbild Kafka folgend schildert der
Arbeiterdichter das ebenso verstörende wie unverständlich bleibende Milieu einer
apokalyptischen Gesellschaft, deren unausweichliches Scheitern sich immer
deutlicher abzeichnet. Als sich zu seinem Außenseitertum bekennender
literarischer Einzelgänger widmet sich Wolfgang Hilbig auch in diesem Roman
wieder seinem zentralen Thema, dem Konflikt zwischen Individuum und
Gesellschaft. Er reflektiert damit eigene Erfahrungen aus seiner Doppelexistenz
als Arbeiter und Dichter in der DDR, war er doch selbst auch einem
Anwerbeversuch der Stasi ausgesetzt.
Protagonist der aus wechselnder Perspektive erzählten
Geschichte ist ein unter Decknamen arbeitender Informeller Mitarbeiter der
Stasi, der als IM «Cambert» wegen einer - ihm allerdings untergeschobenen -
Vaterschaft zu Spitzeldiensten gepresst wird. Angesetzt ist er auf einen
mysteriösen Schriftsteller der Dissidentenszene mit dem Codenamen «Reader», der
nicht publiziert, sondern ausschließlich Lesungen in Privatwohnungen abhält, der
aber auch verdächtigt wird, in den Westen gehen zu wollen. In einer wahrhaft
kafkaesken Szenerie übt Cambert diese Undercover-Tätigkeit im doppelten Sinne im
Untergrund aus, er bewegt sich nämlich am liebsten im labyrinthischen System
untereinander verbundener Keller großer Mietshäuser. Seine Führungsoffiziere
trifft er in üblen Kneipen und hört sich deren Dialektik-Geschwafel an, das oft
in ausufernde Saufexzesse mündet. Wobei für ihn zunehmend fraglich wird, ob
seine eifrig verfassten Berichte wirklich gelesen, geschweige denn beachtet
werden. Reichert er darin doch Reales mit Fiktivem an und kennt sich schon bald
selber nicht mehr aus damit. Er geht sich selbst verloren im vage Bleibenden,
zweifelt zuletzt am eigenen «Ich».
Auf hohem literarischem Niveau karikiert Wolfgang Hilbig den
schrecklichen Spitzelapparat namens Stasi, auf dessen Mechanismen zur
Unterdrückung die „DDR“ als Unrechtsstaat basierte. Ein staatstragendes
Denunziantentum also, das dem heutigen, insbesondere dem westdeutschen Leser,
absurd erscheinen muss, in Wahrheit aber grausame Realität war. Der Autor bleibt
ironisch in kritischer Distanz dazu, was zuweilen durchaus amüsant zu lesen ist,
so wenn er zum Beispiel die genitivreiche Amtssprache der «Firma», wie die Stasi
intern genannt wird, aufs Korn nimmt, oder die grotesken Auswüchse der
sozialistischen Mangelwirtschaft. Sein eher unsympathischer Held ist
psychologisch glaubhaft beschrieben in seinen Ängsten und Nöten, in seiner
Traumwelt voller Abgründe, er verkörpert allegorisch das Ende eines maroden
Spitzelsystems in diesem ostdeutschen Gänsefüßchenstaat.
Der hochkomplexe, zuweilen surreale Prosatext dieses Romans
ist wirklich nicht massentauglich, er überrascht mit unerwarteten Wendungen,
Gedankensprüngen, abseitig Scheinendem, mit Täuschungen und Trugbildern, die den
Leser immer wieder in die Irre führen, alle Gewissheiten zerstörend.
Leitmotivisch wiederholte Gedanken und Fügungen geben der eigenwilligen Prosa
einen originären Rhythmus, der dem Gelesenen eine unverwechselbar
pathetisch-ironische Aura verleiht. Der Protagonist bleibt als Alter Ego des
Autors merkwürdig konturlos, er führt ein Schattendasein, die jovialen
Führungsoffiziere der Stasi vermögen als Figuren paradoxerweise eher Empathie zu
erzeugen. Angenehm zu lesen ist ein derart verkopfter Plot natürlich nicht,
literarisch wichtig aber als authentisches Zeitzeugnis ist diese Geschichte
allemal.
3*
lesenswert - Bories vom Berg - 8. November 2016
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