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WOLFGANG HILDESHEIMER

 

MARBOT

 

 

Wolfgang Hildesheimer - MarbotDie Fiktion als Wahrheit

 

Jene Figur, die Wolfgang Hildesheimer in seinem 1981 erschienenen Band «Marbot. Eine Biographie» erschaffen hat, könnte man als einen literarischen Homunkulus bezeichnen, so lebensecht erscheint uns sein Held, quasi als reale historische Persönlichkeit. Der Autor führt seine Leser gekonnt an der Nase herum, versteckt die Fiktion trickreich unter einer Fülle historischer und wissenschaftlicher Fakten, deklariert seinen Text als Biografie, nicht als Roman, obwohl Letzteres weit eher zutreffend wäre. Es ist der originelle Versuch, eine Lebensgeschichte zu erfinden, die als Wirklichkeit wahrgenommen wird, wobei den Leser hier nicht das amüsante Spiel eines ironischen Erzählers mit der Realität erwartet, der Biograf vermittelt uns vielmehr bis zur letzten Zeile durchaus überzeugend historische Fakten, eine Wahrheit also, in die er seine Figur nahtlos integriert hat.

 

«Für mich ist nur das Wahre wahr, das Wahrscheinliche dagegen Schein» sagte der 24jährige Sir Andrew Marbot am 4. Juli 1825 bei einem Besuch in Weimar zu Goethe. Wir Leser, damit auf das Folgende eingestimmt, erfahren davon gleich auf der ersten Seite. Der umfassend gebildete junge Mann, privilegierter Sohn eines reichen englischen Gutsherrn, von einem Jesuitenpater erzogen, widmet sich, nachdem er sein eigenes Unvermögen als Künstler erkannt und akzeptiert hat, mit ganzer Leidenschaft der Malerei, entwickelt sich zum scharfsinnigen Kritiker und Experten dieser Kunstgattung. Er hat Talent, ist aber kein Genie. Auf seinen Studienreisen durch halb Europa trifft er viele Geistesgrößen jener Zeit, verkehrt in kunstsinnigen Salons und besichtigt immer wieder öffentliche Gemäldegalerien und private Sammlungen. Bei seinen Theorien über Ästhetik und Interpretationen berühmter Gemälde bezieht Marbot erstmals Aspekte der Psychoanalyse mit ein, interessiert sich vor allem für die Bedingtheit von Werk und Maler und die kathartische Wirkung von Kunst.

 

Schon als Kind hatte Andrew eine tiefe Abneigung gegen seinen bodenständigen, sich fast ausschließlich der Jagd und Fischerei widmenden Vater, dafür aber eine umso innigere Beziehung zu seiner schönen Mutter. Es kommt zum Inzest, den beide unbeirrt ausleben, ein Tabu, dessen skandalträchtige Problematik sie in ein unlösbares Dilemma stürzt, sodass sie ihrer verzehrenden, fast grenzenlosen Liebe nach zwei Jahren notgedrungen endgültig abschwören. Andrew verlässt England für immer, nach mehreren Zwischenstationen lässt er sich schließlich im italienischen Urbino nieder, im Gebiet des Montefeltro. Wo er schließlich, inzwischen 29jährig, eines Morgens das Haus verlässt und für immer spurlos verschwindet, nur sein Pferd steht am nächsten Morgen wieder auf dem Hof. Da eine seiner beiden Pistolen fehlt, geht man von Selbstmord aus, ein zweiter Tabubruch also, eine weitere Todsünde nach dem Dogma der katholischen Kirche.

 

Dieser Plot jedoch ist beinahe nebensächlich in einer Biografie, die sich in epischer Breite, bis ins kleinste Detail, mit Kunst beschäftigt. Der Autor treibt seine Camouflage so weit, dass er zur Vorspiegelung von Authentizität eine Fülle englischer Zitate einstreut, für die er dann hilfreich gleich noch die Übersetzung mitliefert. Zu diesem Spiel mit der Fiktion gehört ferner der Hinweis, dass 1888 eine erste Biografie über Marbot erschienen sei, außerdem wird an vielen Stellen die mangelhafte Quellenlage beklagt. Vor allem aber soll uns das sachbuchartige Register berühmter Geistesgrößen, die mit Marbot in Verbindung standen, in die Irre führen. Mit alldem ist Hildesheimer ein überzeugendes Bild des exzentrischen britischen Kunstkritikers gelungen. Gleichzeitig aber nutzt er, der ja selbst Malerei studiert hat, sein Buch als Forum für ausufernde kunsttheoretische Betrachtungen. Damit jedoch überfrachtet er den Stoff gewaltig, nur wenige Leser dürften das erforderliche Fachwissen besitzen, um diesen geistigen Höhenflügen im Detail folgen zu können, das Buch also mit Gewinn zu lesen.

 

2* mäßig - Bories vom Berg - 8. Februar 2017

 

 

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