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UWE JOHNSON

 

MUTMASSUNGEN ÜBER JAKOB

 

Uwe Johnson - Mutmassungen über JakobAmbitioniertes Zeitzeugnis

 

In Peter Suhrkamps Sterbezimmer, so die Anekdote, fand Siegfried Unseld 1959 ein ungelesenes Manuskript, das noch im selben Jahr veröffentlicht wurde, der Roman «Mutmassungen über Jakob» von Uwe Johnson. Schon der Titel dieser ersten Veröffentlichung des Autors ist beredt: Hatte Johnson, wie spekuliert wird, kein ß auf seiner Schreibmaschine? War die falsche Orthografie Schlamperei oder ein Marketing-Gag des Verlages? Wie auch immer, das Wort Mutmaßungen deutet bereits auf das sprachliche Konstrukt dieses heute als kanonisch eingestuften Romans hin, an dem viele Leser scheitern, der nicht zuletzt sogar professionelle Kritiker und Schriftstellerkollegen polarisiert. Wer die Literatur nicht nur als angenehmen Zeitvertreib ansieht, sondern vielmehr als großartige Kunstgattung, die ihn insgesamt interessiert, in allen ihren Ausformungen also, der sollte sich der Mühe unterziehen, diesen Roman zu lesen - und seinen literarischen Horizont zu weiten damit.

 

«Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen» lautet bezeichnenderweise schon der erste Satz, denn Jakob Abs, Dispatcher bei der Reichsbahn der DDR, sparte sich durch diese Abkürzung eine halbe Stunde Fußweg um das Bahngelände herum, - diesmal aber kostete es ihn sein Leben, er wurde von einer Rangierlok erfasst. Unfall, Selbstmord oder Mordanschlag, alles ist möglich, es darf gemutmaßt werden! Ausschließlich in Rückblenden schildert dieser Roman die Vorgeschichte dieses tragischen Todes, eine Klärung bietet er nicht. Enzensberger soll (ironisch?) von einer aktiven Rolle des Lesers gesprochen haben, die dieser Roman ihm anbietet als detektivische Aufgabe über das reine Lesen hinaus.

 

Auf der Flucht vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges war Jakob mit seiner Mutter beim Kunsttischler Cresspahl und dessen Tochter Gesine in Jerichow untergekommen, ein fiktiver Ort an der Ostsee in Mecklenburg. Zwischen den Vieren bildete sich ein familiäres Verhältnis heraus. Als Gesine nach Frankfurt am Main übersiedelt, dort eine Stelle als Dolmetscherin bei der Nato findet und später auch Jakobs Mutter in den Westen geht, ruft das natürlich die Stasi auf den Plan: ein DDR-Agent versucht, den regimetreuen Jakob dafür zu gewinnen, Gesine als Spionin anzuwerben. Sie hat inzwischen den Anglisten Dr. Jonas Blach kennengelernt und mit ihm eine Affäre begonnen, nach einem wissenschaftlichen Vortrag ist er als Logiergast in Cresspahls Haus, um dort in Ruhe eine Abhandlung über notwendige Reformen in der DDR zu schreiben. Als Jakob von einem Westbesuch bei Gesine zurückkommt, wird er von der Lok überrollt.

 

Zeitlicher Hintergrund dieser Geschichte sind der Ungarnaufstand und die Suezkrise im Jahre 1956. In Johnsons Hauptwerk, dem vierteiligen Romanzyklus «Jahreszeiten», taucht Gesine später als Hauptfigur erneut auf. Die beiden deutschen Staaten sind ein zentrales Thema in Johnsons Werk, wobei ihm die historische Situation als Basis dient bei der Ausformung seiner Figuren, nicht die Grenze als solche. Die ja damals so scharf noch gar nicht gezogen war, die Mauer kam später, man vergisst das heute leicht. Sprachlich ist Johnsons Roman eine radikale Abkehr von konventionellen Erzählweisen. Allein schon die verschiedenen, oft nur schwer erkennbaren Perspektiven seiner fragmentarischen Textblöcke, viel mehr aber ihre abrupten Übergänge in einem erzählerischen Stakkato ohnegleichen stellen extrem hohe Anforderungen an Geduld und Aufmerksamkeit des Lesers, von der eigenwilligen Syntax, fremdsprachlichen Einsprengseln und dem plattdeutschen Palaver des alten Cresspahl ganz zu schweigen. Ein Verwirrspiel, welches man dem Autor dieses wenig gelesenen, sperrigen Romans vorwerfen kann, der beide deutsche Staaten gleichermaßen kritisch betrachtet und ihre Ideologien als menschenfeindlich bloßstellt. Und auch wenn heute vieles überholt erscheint von der damaligen Problematik, ist der Roman doch ein literarisch ambitioniertes Zeitzeugnis ohne Beispiel.

 

3* lesenswert - Bories vom Berg - 11. Oktober 2015

 

 

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