DAS KURZE GLÜCK
DER GEGENWART
der letzten zwanzig Jahre
Wem Literatur mehr bedeutet als ein paar vergnügliche Lesestunden, der wird auch gerne hin und wieder mal ein Sachbuch lesen, das Aspekte seiner bevorzugten Kunstgattung mit wissenschaftlicher Expertise beleuchtet. Richard Kämmerlings hat mit «Das kurze Glück der Gegenwart» ein solches Buch vorgelegt, er widmet sich darin der deutschsprachigen Literatur seit 1989, bei der er als Literatur-Wissenschaftler deutliche Defizite an Gegenwärtigkeit konstatiert und bedauert.
Als Beispiel führt er in der Einleitung an, dass der ultimative Wende-Roman nicht geschrieben wurde, «… so als sei es unter der Würde des Schriftstellers, einen naheliegenden, sich für eine erzählerische Bearbeitung geradezu aufdrängenden Gegenstand zu wählen». Wenn aber der Zeitbezug fehle, wenn gegenwarts-bezogene Erkenntnisse oder Denkimpulse also nicht zu erwarten wären, warum sollte sich der Leser dann überhaupt den Neuerscheinungen zuwenden? Es geht ihm also darum, eine Literatur einzufordern, bei der es nicht nur um das Private oder das Historische geht, sondern auch um die gegenwärtigen Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, also um politische Strömungen, ökonomische Desaster, kulturelle Trends und wissenschaftliche Erkenntnisse.
In neun thematisch ganz unterschiedlichen Kapiteln geht Richard Kämmerlings wohlgemut in medias res, wobei er mit Berlin beginnt als «Topos des Terrors». Er konstatiert eine Mitte der neunziger Jahre einsetzende Umwertung der Gegenwartsliteratur, die mit «Faserland» von Christian Kracht eingeleitet wurde und vehement das Hier und Heute ins Zentrum stellt. Aber auch Klagenfurt ist für ihn «… der Ort, an dem sich die Veränderungen, die Verschiebungen des literarischen Feldes manifestieren». Als Enfant terrible ist Maxim Biller für ihn der Vorreiter eines thematischen Umdenkens, das mit dem später verbotenen Roman «Esra» seinen medialen Höhepunkt fand, weil er erzählte Wirklichkeit war und nicht Fiktion. Es folgt das Kapitel über Krieg als gegenwärtiges Thema, bei dem Kämmerlings Ernst Jünger als ihn persönlich prägenden Schriftsteller nennt und die Sprachlosigkeit heutiger Autoren beklagt, denen außer NVA-Klamauk dazu nichts einfalle. Mit Sex als fast nur auf Englisch thematisiertem Stoff, mit der weltweiten Finanzkrise, die literarisch, wenn überhaupt, allenfalls im Krimi oder als Science-Fiction stattfinde, mit dem Ignorieren der rapide wachsenden sozialen Verwerfungen setzt der Autor seine Liste der Sprachlosigkeit fort. Um dann zum Thema Familie zu gelangen, die immer mehr in der Patchwork-Version beschrieben werde, wobei er den Roman «Die Liebe der Väter» als lobenswertes Beispiel erwähnt, dessen Thematik Kämmerlings aus eigenem Erleben bestens kennt. Auch die Herkunft werde bis auf wenige Ausnahmen in der Gegenwarts-Literatur vernachlässigt, Heimat als Thematik versinke entweder im Provinzialismus oder sei allenfalls noch im Migrations-Roman anzutreffen. Beim Tod schließlich, im letzten Kapitel, ist die Gegenwart ebenfalls ausgeblendet, nur einige wenige Schriftsteller hätten dazu literarisch wirklich Überzeugendes geliefert.
Der Erkenntnisgewinn für den Leser dieses Buches liegt in der sachkundigen Tour d’Horizon durch die neuere deutsche Gegenwarts-Literatur, für deren Defizite aber immer auch Gegenbeispiele genannt werden, kenntnisreich analysiert zudem. Mit Anekdoten angereichert erfährt man auch Interna aus dem Literaturbetrieb, liest von den Disputen der Autoren, Kritiker und Lektoren untereinander. Vor allem aber lernt man en passant viele Autoren und Bücher kennen, die man bisher nicht auf dem Radar hatte als Leser. Und so empfiehlt sich das reichhaltige Autorenregister als ergiebiger Quell künftiger Leseabenteuer, auch wenn die Auswahl des Autors natürlich subjektiv ist und damit anfechtbar. Was dann vor allem für die «Zehn besten Bücher der letzten zwanzig Jahre» gilt, die Richard Kämmerlings sich am Ende mutig vorzustellen traut.
3* lesenswert - Bories vom Berg - 24. August 2021
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