HAN
KANG
DIE
VEGETARIERIN
Vielschichtig
und lange nachwirkend
Das bisher wohl beste und auch bekannteste Werk
der gerade erst mit dem Nobelpreis ausgezeichneten, südkoreanischen
Schriftstellerin Han Kang mit dem Titel «Die Vegetarierin» wurde
2016 mit dem ‹Booker Prize International› geehrt als bester
fremdsprachiger Roman. Die Feuilletons feierten das in mehr als 25
Sprachen übersetzte und inzwischen auch verfilmte Buch in höchsten
Tönen. Wie schon in anderen ihrer Romane ist auch hier ein Traum der
Auslöser für das thematisch an Kafka erinnernde, verstörende
Geschehen. «Ich hatte einen Traum» ist die immergleiche Erklärung
der Protagonistin für ihre plötzliche Obsession, mit der die
Abwärts-Spirale zu den letztendlich sogar ihre Existenz
vernichtenden Wahnvorstellungen zunächst scheinbar ganz harmlos
beginnt.
«Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt
ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar», lautet der erste
Satz. Und lakonisch weiter: «So fühlte ich mich weder von ihr
angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu
heiraten.» Alle seine Versuche wie auch die ihrer Familie bleiben
erfolglos, Yeong-hye von ihrer abrupten, kompromisslosen
Entscheidung abzubringen, auf Fleisch zu verzichten, was in Korea
schon fast als Sakrileg gilt. Das und ihre Ablehnung, einen BH zu
tragen, führt schon bald zu einer für den Ehemann höchst peinlichen
Situation. Als sie nämlich zum Essen mit seinem Chef eingeladen
sind, wird ihr Vegetarismus zum Diskussions-Thema, und auch die sich
unter ihrer dünnen Bluse deutlich abzeichnenden Brustwarzen sind für
alle am Tisch recht peinlich.
Zwei Jahre später, im zweiten Teil des
dreiteiligen Romans mit dem Titel «Der Mongolenfleck» wechselt die
Perspektive zum Schwager von Yeong-hye, der als Video-Künstler
arbeitet. Inspiriert von einer Theateraufführung möchte er ein neues
Projekt angehen, bei dem sich ein am ganzen Körper mit Blumen
bemaltes Paar eng umschlungen wie im Tanz bewegt. Er beschließt,
seine inzwischen in Scheidung lebende Schwägerin Yeong-hye zu
fragen, ob sie bereit wäre, für ihn Modell zu stehen und sich nackt
bemalen zu lassen. Denn er weiß, dass sie ein als Mongolenfleck
bezeichnetes Muttermal trägt, auch das eine Inspiration für ihn.
Ohne Zögern sagt sie zu und lässt sich in seinem Atelier mit Blumen
bemalen, wobei er den gesamten Arbeitsprozess per Video aufzeichnet.
Er bitte sie, die Bemalung nicht abzuwaschen und noch ein zweites
Mal zu kommen, um nun zusammen mit einem Kollegen Modell zu stehen.
Sie ist bereit dazu, er bemalt auch den jungen Mann und fordert die
beiden Nackten dann auf, sich miteinander in erotischen Posen zu
bewegen, wobei er sie filmt. Während Yeong-hye keine Probleme damit
hat und sogar bereit wäre, Sex mit dem Mann zu haben, bricht der
Kollege die nach seiner Ansicht pornografisch werdende Aktion ab.
Sie sein feucht geworden, gesteht sie dem Video-Künstler danach,
lehnt es aber ab, statt mit dem Kollegen doch mit ihm zu schlafen.
Es wäre die Bemalung des Mannes gewesen, die sie so erregt habe.
Daraufhin lässt er sich sofort von einer ehemaligen Kollegin selbst
bemalen und fährt noch in der gleichen Nacht zu Yeong-hye, wo sie
rauschhaften Sex haben. Als seine Frau die Bemalten morgens im Bett
findet, ruft sie den Notarzt, der die beiden ja ganz offensichtlich
Geisteskranken in die Psychiatrie einweist.
Aus der Perspektive der Schwester wird im dritten
Teil lakonisch der verhängnisvolle Abwärtsstrudel beschieben, der
zum Erlöschen der Existenz von Yeong-hye hinführt, die schließlich
glaubt, ein Baum zu sein. Der aus ursprünglich drei Novellen
entstandene, abgründige Roman thematisiert subversiv, in einer
betont nüchternen Sprache, das Unverständnis einer abweichenden
Ernährungsweise gegenüber, ferner die Gefahren eines moralisch
unkonventionellen Verhaltens und letztendlich eine Psychose, die
apokalyptisch endet. Dieser vielschichtige Roman, der auf ganz
verschiedene Weise gedeutet werden kann, wirkt thematisch, aber auch
wegen seiner stilistischen Schlichtheit sehr lange nach.
4*
erfreulich - Bories
vom Berg - . 19. Februar 2025

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