DANIEL KEHLMANN
TYLL
Vergegenwärtigung
des Vergangenen
Nach vier Jahren ist mit «Tyll» wieder ein Roman von
Daniel Kehlmann erschienen, der das Zeug dazu hat, an den großen Erfolg
seines Bestsellers «Die Vermessung der Welt» anzuknüpfen, und auch hier
wird Realität und Fiktion zu einer unterhaltsamen Geschichte verknüpft.
Der Trick dabei, die Eulenspiegelei also, ist eine lässliche Schummelei
des Autors: Die legendäre Figur tauchte erstmals gegen Ende des
Mittelalters auf, der Roman hingegen weist dem berühmten Schelm gut
hundert Jahre später eine Rolle mitten im Dreißigjährigen Krieg zu. Und
um den geht es letztendlich auch in diesem historischen Roman.
Kehlmann erzählt seine Geschichte in acht Episoden,
beginnend mit einem bösen Streich, bei dem Tyll Ulenspiegel den
einfältigen, bisher vom Krieg noch verschonten Bewohnern einer Stadt als
Schauspieler, Seiltänzer und Bauchredner das Geld aus den Taschen zieht
und die euphorisierte Menge am Ende zu einem kollektiven Schuhwerfen
anstiftet. Lachend über das damit angerichtete Chaos zieht der
notorische Spötter mit seinem Eselskarren und den zwei Begleiterinnen
weiter. Tyll stammt aus einer Müllerfamilie, erfahren wir in der
Rückblende des nächsten Kapitels, sein autodidaktisch gelehrter Vater
beschäftigt sich mit allerlei Zauber, mit Astrologie und Experimenten,
bis er als Hexer denunziert und von einem melancholischen Henker
«einfühlsam» zu Tode gebracht wird. Als junger Bengel flüchtet der
heimatlos gewordene Tyll daraufhin mit der Bäckertochter Nele in die
Welt hinaus, in ein durch den barbarischen Krieg verheertes Land. Sie
treffen auf den bösartigen Gaukler Pirmin, der sie mitnimmt und ihnen
zwar vieles beibringt, sie aber auch sehr schlecht behandelt, - bis Nele
ihm schließlich ein finales Pilzgericht kocht: Einige Hände voll
Pfifferlinge, gemischt mit etwas Fliegenpilz und Knollenblätterpilz.
Jeden der Giftpilze allein kann man herausschmecken, weiß Nele, mit
beiden zusammen aber verliert sich der verräterische Beigeschmack
völlig.
Die Figur des Tyll bildet eine lose Klammer um das
Geschehen im Roman, das sich kapitelweise allmählich von den
Bedrängnissen der kleinen Leute hin zu den oft nicht weniger gebeutelten
Majestäten entwickelt. In kürzeren und längeren Episoden wird da
beispielsweise von der Schlacht von Zusmarshausen berichtet, ein in
seiner Brutalität heute kaum noch vorstellbares Gemetzel, oder von den
Prager «Winterkönigen», Friedrich V mit seiner schönen Gemahlin Liz,
Elisabeth Stuart, Enkelin der berühmten Maria. Die tragische Geschichte
dieses böhmischen Königs wird als einer der Auslöser des verheerenden
Glaubenskrieges angesehen. Aber auch der faszinierenden Person des
berühmten Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher ist zum
Beispiel ein Kapitel gewidmet. Als, Jahrzehnte später, im letzten
Kapitel, die inzwischen verwitwete und völlig verarmte Liz, die unbeirrt
weiterhin kurfürstliche Rechte für ihren Sohn geltend macht, aus ihrem
Exil nach Westfalen reist, zu den Friedensverhandlungen, trifft sie dort
auf Tyll, Hofnarr des Kaisers. Sie bietet ihm an, mit ihr nach England
zu kommen, «Um der alten Zeiten willen», wie sie sagt. «Du weißt so gut
wie ich, dass der Kaiser sich früher oder später über dich ärgert. Dann
bist du wieder auf der Straße. Du hast es besser bei mir.» Er erwidert:
«Aber weißt du, was besser ist? Noch besser als friedlich sterben?» «Sag
es mir.» «Nicht sterben, kleine Liz. Das ist viel besser.» Dem Autor
gelingt hier ein versöhnliches Ende ohne jeden Kitsch, Chapeau!
Zur Unsterblichkeit dieser legendären Figur dürfte Kehlmann
seinerseits einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten
mit seinem kreativ erdachten und grandios erzählten Roman, der ebenso
unterhaltsam ist wie bereichernd, sein bester bisher. Eine gelungene
Vergegenwärtigung des Vergangenen, sprachlich brillant, herrlich
leichtfüßig erzählt, dabei – gottlob – jedwedes Zeitidiom meidend, mit
feiner Ironie angereichert zudem, - eine unbedingt empfehlenswerte
Lektüre!
5*
erstklassig
- Bories vom Berg - 22. Februar 2018
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