IMRE
KERTESZ
LIQUIDATION
Schicksalslosigkeit
nach Auschwitz
Zum Auschwitz-Zyklus des
Literatur-Nobelpreisträgers Imre Kertèsz gehört auch der Roman
«Liquidation», der sich thematisch damit auseinandersetzt, wie in
Ungarn nach der Wende, und der damit einher gehenden, politischen
Liberalisierung, die junge Generation sich schwertut, mit dem
historischen Erbe angemessen umzugehen. Als ungarischer
Schriftsteller war Kertèsz geprägt durch seine Deportation nach
Auschwitz und anschließend ebenso durch seine zeitweilige Arbeit als
Gefängniswärter. Dabei fand er sich plötzlich auf der Gegenseite
wieder, in der «Situation des Henkers, des Täters», wie er erklärt
hat.
Im vierten der unter dem Namen «Tetralogie der
Schicksalslosigkeit» bekannt gewordenen Romane dient dem Autor in
«Liquidation» ein total desillusionierter Lektor namens Keserü als
Protagonist. Und, nomen est omen, ‹keserü› bedeutet auf Deutsch
‹bitter›, wobei dieses Adjektiv auch für die verbitterte Stimmung
gilt, die im gesamten Roman vorherrscht. Der beste Freund von Keserü
war der Schriftsteller B., der 1944 in Auschwitz geboren wurde. Man
tätowierte dem Säugling die Lagernummer auf den Oberschenkel, weil
seine Ärmchen dafür zu klein waren. Er überlebte Auschwitz wie durch
ein Wunder, was aus seiner Mutter geworden war, wusste er nicht.
Seine resignative Grundthese, die er immer und überall zum Ausdruck
brachte, lautete: «Das Lebensprinzip ist das Böse». Im Jahre1990 hat
er sich dann schließlich überraschend durch eine Überdosis Morphium
umgebracht. Aufgefunden hat ihn Sára, seine mit einem Kollegen
verheiratete Geliebte, die einen Schlüssel zu B.s Wohnung hat und
für die er einen lapidar kurze Nachricht hinterließ: «Sei mir nicht
böse! Gute Nacht!». In ihrer Aufregung ruft sie zuerst Keserü an,
der sofort in die Wohnung eilt. Er will Manuskripte seines Freundes
retten, bevor die Polizei kommt und sie beschlagnahmt. Insbesondere
sucht er nach einem noch nicht veröffentlichten Roman, von dessen
mutmaßlich geheim gehaltener Existenz er fest überzeugt ist. Aber er
findet nichts dergleichen!
Allerdings stößt er unter anderem auf das
Manuskript eines Theaterstücks mit dem Namen «Liquidation». In dem
Stück wird geradezu beängstigend prophetisch genau das
wiedergegeben, was nach seiner Auffindung dann auch tatsächlich
passiert. Denn Keserü fahndet unbeirrt weiter nach dem
vermeintlichen Roman-Manuskript, wobei er zunächst Sára verdächtigt,
dass sie es an sich genommen habe. Als sie das vehement verneint,
wendet er sich schließlich an Judith, die Exfrau von B., die sich
vor fünf Jahren von ihm hat scheiden lassen. Sie ist Ärztin und
gesteht Keserü nach langem Insistieren, dass B. ihr das
Roman-Manuskript tatsächlich übergeben habe und dass sie es war, die
ihren rauschgiftsüchtigen Ex-Mann mit dem Morphium versorgt hat, mit
dem er sich dann umbrachte. Er hatte ihr das Versprechen abgenommen,
unmittelbar nach seinem Suizid das Manuskript seines großen
Auschwitz-Romans zu verbrennen, was sie dann auch getan habe.
In dem komplexen Roman stellt Imre Kertèsz seinem
Protagonisten und Alter Ego Keserü mit dessen von ihm grenzenlos
bewundertem Freund B. spiegelbildlich eine Figur gegenüber, alle
drei Existenzen verschmelzen zunehmend ineinander. Zu den Gründen
für B.s Suizid heißt es lapidar: «Seine Geschichte war zu Ende, ihn
selbst aber gab es noch, und das war ein Problem». Auch für Kertèsz
gilt das Diktum von Adorno als ein unauflösliches Paradoxon. Der
Vergangenheit, so sein Credo, kann man zwar nicht entkommen, aber
doch seiner ebenso sinnlosen wie selbstzerstörerischen Wiederholung!
Die komplexe narrative Struktur dieses Romans ergibt sich allein
schon aus der Tatsache, dass hier zwei Romane und ein Theaterstück,
oft kaum unterscheidbar, erzählerisch ineinander verschachtelt sind.
Auch die Perspektiven, aus denen da erzählt wird, wechseln häufig
schwer erkennbar, von unterschiedlichen Ich-Erzählern bis hin zu
einem nicht identifizierbaren auktorialen Erzähler. Hohe Kunst ist
das ohne Zweifel, - aber schwer lesbar ist das natürlich auch!
3* lesenswert - Bories
vom Berg - 8. Mai 2025

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