ESTHER
KINSKY
ROMBO
Eine
Geschichte, die keine sein will
Der das Thema des neuen Romans von Esther Kinsky
bereits andeutende Titel «Rombo» steht im Italienischen mythisch für
das dumpfe, mehr spür- als hörbare Grollen aus der Tiefe, welches
heftigen Erdbeben vorauszugehen scheint. Es geht hier um die
verheerenden Erdbeben, die am 6. Mai 1976 im Bereich des Monte San
Simeone im Friaul begannen und denen im September gleichen Jahres
weitere schwere Erdbeben folgten. Bis zum Herbst jenes Jahres
zerstörten die gewaltigen Erschütterungen zehntausende Häuser und
forderten fast tausend Tote. Wie schon in «Hain», ihrem letzten
Roman, dienen auch hier ausufernde Beschreibungen von Natur und
Landschaft als stimmungsmäßige Grundierung für das eigentliche
Thema. Es geht um das menschliche Trauma bleibender Erinnerungen an
zerstörerische Naturgewalten, das in Worte zu fassen nicht so
einfach ist. Ähnlich traumatische Erfahrungen von 9/11, nicht
weniger schrecklich, zeugen davon.
Jedes der sieben Abschnitte des Romans wird durch
ein kurzes Zitat aus verschiedenen wissenschaftlichen Werken zur
Geognosie eingeleitet, wie die Lehre
von Aufbau und Struktur der
Erdkruste im neunzehnten Jahrhundert noch hieß. Ebenso fachkundigen
Ehrgeiz verwendet die Autorin auf ihre eigenen, minutiösen
Schilderungen der zerklüfteten Landschaft des betroffenen Gebietes.
Mit großer sprachlicher Präzision beschreibt sie die Eigenarten von
Flora und Fauna der rauen Bergregion mit ihren oft extremen
Wetterlagen. Die krempeln im Verein mit den häufigen Erdbeben die
geologischen Verhältnisse manchmal derart um, dass quasi neues
Gelände entsteht. Meist durch Felsstürze oder plötzliche
Schneeschmelze verursacht, werden unversehens Flüsse und Bäche in
ein entferntes Bett umgelenkt. Oder durch Fels und Geröll
verursachte Aufstauungen lassen an anderer Stelle neue Tümpel und
Teiche entstehen. - und nichts ist mehr, wie es mal war.
Wenn es im Roman heißt, «die Erinnerungen, das
sind wir selbst», dann ist das ein Hinweis auf die sieben
Dorfbewohner, die zum Teil als Ich-Erzähler in meist kurzen
Erinnerungs-Schnipseln über sich selbst und ihre persönlichen
Lebensumstände, vor allem aber über ihre Beobachtungen und
Erlebnisse vor, beim und nach dem Erdbeben berichten. Allesamt
Einwohner des armseligen Bergdorfes Venzone, das sich mangels
Arbeitsplätzen zusehends entvölkert und immer mehr ins Abseits
gedrängt wird. «Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vielen Mäulern
bellt», merkt der alte Anselmo zum Thema an. Esther Kinsky verwendet
ihre fiktiven Protokolle nicht dokumentarisch, sondern schiebt sie
in scheinbar bunter Folge in ihre thematisch nur bruchstückhaft
zusammen gefügten Natur-Betrachtungen ein. Angereichert wird dieses
Pendeln zwischen den Erzähl-Gegenständen durch immer wieder mal
eingeschobene Mythen wie die von «Rombo», dem seismischen
Unglücksboten. Es gibt aber auch Legenden und Sagen, wie sie zum
Beispiel im Lied von der «Riba Faronika», dem pharaonischen Fisch,
in der Region weiterleben als eigenständige Schöpfungs-Geschichte.
Mit ihrem
verstörenden Mix aus Natur, Trauma und Mythen stellt die Autorin dem
äußeren Chaos ein poetologisches gegenüber, eines der Sphären und
Wörter, wohl um das Unfassbare sichtbar zu machen. Insoweit kann man
ihren artifiziellen Roman als metaphorisch angelegten Versuch über
das Erinnern lesen. Und natürlich steckt darin auch die alte Frage
der Theodizee, wie kann Gott das zulassen? Durch ihre peniblen
Natur-Beschreibungen festigt sie zunehmend den Eindruck, dass aber
alles richtig ist, wie es ist. All diesen vielen geologischen und
biologischen Exkursen, den Berichten ihrer blutleer bleibenden
Figuren, den knappen, auktorialen Ergänzungen über Land und Leute
fehlt jedoch ein narrativer Überbau, der die nicht weniger als 142
disparaten Textblöcke zu einer als Roman überzeugenden Prosa mit
erkennbar rotem Faden zusammen bindet. Denn so bleibt kaum was
haften nach der Lektüre einer Geschichte, die nun mal partout keine
sein will.
1*
miserabel -
Bories vom Berg - 9. Juni 2022
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