ROLF
LAPPERT
NACH HAUSE
SCHWIMMEN
Alles
andere als literarisch frigid
Mit seinem fünften Roman «Nach Hause schwimmen»
ist der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert von der Jury des
Frankfurter Buchpreises 2008 auf die Longlist gewählt worden, er
wurde damit erstmals einem größeren Lesepublikum bekannt. Das Werk
wurde im gleichen Jahr auch mit dem Schweizer Buchpreis
ausgezeichnet, es ist sein bisher größter Erfolg. Auch sieben Jahre
später war er
mit «Über den Winter» Finalist in Frankfurt, thematisch
verwandt sind beide Romane mit ihren wegen psychischer Defekte am
Leben scheiternden Protagonisten.
Das Unglück verfolgt Wilbur, seit er geboren
wurde. Seine Mutter stirbt bei der Frühgeburt, der Vater
verschwindet spurlos, das Kind kommt ins Waisenhaus. Bis seine
irischen Großeltern ihn zu sich holen und die Großmutter den
kleinwüchsigen Jungen umsorgt. Als sie bei einem Unfall stirbt,
kommt er zu puristischen Pflegeeltern, die ihn so gängeln, dass er
irgendwann Feuer legt und in der Besserungsanstalt landet. Bis ihn
dort schließlich Alice befreit, die nette Schwester, die ihn schon
im Säuglingsheim geliebt hat und ihn nun adoptiert und nach Amerika
holt. Was Wilbur widerfährt wird in einem hoch komprimierten Plot
erzählt, der sich als ein wahres Füllhorn an Erlebnissen,
Schicksalsschlägen und überraschenden Wendungen erweist. Orte der
Handlung sind Amerika, Irland und Schweden, Erzählzeit sind die
Jahre seit der Geburt Wilburs 1980 bis zu seinem zwanzigsten
Geburtstag. Geradezu verschwenderisch wird da vom Ertrinken erzählt,
vom Feuerlegen, von Suizidversuchen, von kriminellen Machenschaften
in der Besserungsanstalt, vom Alkoholismus, sogar ein Goldschatz
fehlt da nicht. Wilburs Inselbegabung lässt ihn mühelos zum besten
Schüler werden, zum überaus talentierten Cellospieler zudem, aber
auch zum begeisterten Buchleser, Bibliothekar, Cineasten und
Verfasser eines dicken Buches über sein Schauspieler-Idol Bruce
Willis, in dessen Actionthrillern voller Gewaltexzessen er sich
begeistert mit dem Helden identifiziert.
Psychologisch klar nachvollziehbar wird in diesem
Roman die Leidens-Geschichte eines körperlich gehandicapten
Außenseiters geschildert. Dessen Wut gegen die Welt sowie seine
partiell auftretende, emotionale Bindungs-Unfähigkeit stürzen ihn
immer wieder in größte Probleme und lösen irrationale, verzweifelte
Reaktionen aus. Ein stabiler Platz in der Gesellschaft scheint somit
unerreichbar für den Hochbegabten, der sich fleißig und erstaunlich
talentiert mit niederen Gelegenheits-Arbeiten weit unter seinem
Niveau durchschlägt. Gleich zu Beginn
treffen wir den zwanzigjährigen, lebensmüden Protagonisten in einer
psychiatrischen Anstalt. Er erzählt aus der Ich-Perspektive, warum
er der Welt so glücklos abhanden gekommen ist. «Glück ist dein
Lieblings-Song aus dem Radio eines Autos, das an dir vorbeirast und
in einen Abgrund stürzt», erklärt er resigniert. Parallel wird in
einem zweiten Handlungsstrang, abwechselnd und zeitlich gegenläufig,
auktorial von Wilburs Kindheit erzählt, bis die beiden
Handlungs-Stränge am Ende zusammentreffen.
Dieser unterhaltsame Entwicklungs-Roman
übertreibt es allerdings mit seinem extrem vielschichtigen Plot, in
dem eine spannende Geschichte atemlos Schlag auf Schlag
vorangetrieben wird, - weniger wäre da mehr gewesen. Als wahre
Stärke erweist sich hingegen die bewundernswerte Fähigkeit des
Autors, seine vielen Charaktere mit allen ihren schrulligen
Eigenarten mit wenigen Worten anschaulich zu beschreiben, in ein
paar Sätzen ihr ganzes Leben zu erzählen. Und dies auch bei
Nebenfiguren, von jedem hat man ganz schnell erfasst, was für einen
Menschen man vor sich hat. Aus den Figuren heraus werden stimmige
Bilder erzeugt, entwickelt sich das turbulente Geschehen in diesem
Pageturner. Erzählt wird stilistisch unprätentiös, angenehm lesbar
und sprachlich durchaus kreativ, er sei «kulinarisch frigid»,
erklärt Wilbur beispielsweise mal. Wer nicht ‹literarisch frigid›
ist, wird diesen komplexen Roman lieben.
3*
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- 3. März 2021
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