GERT
LOSCHÜTZ
BALLADE VOM
TAG,
DER NICHT
VORÜBER IST
Und
täglich grüßt das Murmeltier
Der soeben unter dem Titel «Ballade vom Tag, der
nicht vorüber ist» veröffentlichte Roman von Gert Loschütz hat eine
weit zurückreichende, editorische Vorgeschichte. Das Buch basiert
auf dem gleichnamigen Hörspiel aus dem Jahre 1988, das zwei Jahre
später unter dem Titel «Flucht» erstmals als Roman veröffentlicht
wurde. Wie der Autor in seiner Nachbemerkung schreibt, stand der
damalige Titel in deutlichem Zusammenhang mit den Absetz-Bewegungen
aus der DDR. Angesichts der heutigen, ganz anders gelagerten
Flucht-Problematik «ist der Titel falsch». Er sei für die Neuausgabe
deshalb «zu dem Titel zurückgekehrt, den die Geschichte für mich
immer hatte», erklärt der 1957 als Elfjähriger mit seinen Eltern aus
der DDR ausgereiste Autor.
«Sieh dir alles genau an, weil du es nicht
wiedersiehst», sagt die Mutter von Karsten, als sie spätabends noch
mal durch die Straßen gehen, es ist der Abend vor ihrer
klamm-heimlichen Ausreise in den Westen. Immer wieder wurden vorab
schon mal von verschiedenen Postämtern aus Pakete dorthin geschickt,
wurde das Geld vom Konto abgehoben und davon ein teurer Fotoapparat
gekauft. Der soll ‹Drüben› dann gleich wieder verkauft werden, der
Erlös ist als Startkapital gedacht. Am nächsten Morgen machen sie
sich dann auf den Weg zum Bahnhof. «Sieh dich nicht um» sagt die
Mutter unterwegs immer wieder zu ihrem Sohn. Ihre Reise ist allen
gegenüber als Urlaubsreise an die Ostsee deklariert worden, niemand
darf wissen, wohin sie tatsächlich fahren. Diese konspirative
Ausreise aus seinem Heimatort Plothow hinterlässt bleibende Spuren
bei Karsten, um nicht zu sagen Schäden. Zeit seines Lebens ist der
Abreisetag für ihn nun ein ganz besonderes Datum, sein persönlicher
Feiertag quasi, der eine gravierende Zäsur in seinem Leben markiert.
Und auch die traumatische erste Nacht in einem hessischen Hotel wird
prägend für sein weiteres Leben. Denn künftig wird jede erste Nacht
in einem Hotel den Reisejournalisten an die beklemmende, ungewohnte
Situation erinnern, irgendwo ganz neu zu sein, so wie damals, als
plötzlich alles ganz anders war als daheim in der DDR.
Eine durchgängige Handlung findet man nicht in
diesem Roman, es sind eher narrative Vignetten, die da, zeitlich vor
und zurück springend, aufgereiht werden. Den Ich-Erzähler Karsten
hat das Fluchterlebnis nicht nur geprägt, es hat ihn total
entwurzelt, er ist nirgendwo mehr richtig zu Hause und sucht bei
seinen Reisen ruhelos nach Orten und Landschaften, die ihn an seine
märkische Heimat erinnern. In Irland und auf Sizilien glaubt er sie
gefunden zu haben. Als Reisejournalist schreibt er so manches
Notizbuch voll und sitzt am Ende mit drei anderen Teilnehmern in
einer Rundfunksendung, in der es ums Reisen geht, Genaueres erfährt
man aber nicht. Gert Loschütz erweist sich hier als Großmeister der
Andeutungen. Er lässt eine Feindschaft in der Schulzeit seines
Helden kurz aufblitzen, führt einen ebenfalls viel reisenden und
schreibenden Freund Götz ein, von dem man kaum etwas erfährt, und
auch Frauen spielen nur andeutungsweise eine Rolle. Einzige Ausnahme
ist Vera, mit der Karsten wohl länger liiert ist, und die dann auch
als Adressatin fungiert, wenn beim Erzählen zuweilen in die Du-Form
gewechselt wird. Aber auch da wird nur episodenhaft verkürzt
erzählt, Vera bleibt eine eher schemenhafte Figur ohne Profil.
Die posttraumatisch bedingte
Ruhelosigkeit des Protagonisten wird in einem unablässigen
Gedankenstrom artikuliert, der in beeindruckenden Bildern
Landschaften ebenso stimmig wiedergibt wie Erlebnisse und
Begebenheiten im eng begrenzten Lebensradius des melancholischen
Helden. Mit der Methode des unzuverlässigen, und zudem auch noch
heftig mäandernden Erzählens wird der Leser allerdings ziemlich
gefordert. Man fühlt sich verloren wie Karsten, dessen Gedanken
refrainartig immer wieder auf den «Tag, der nicht vorüber ist»
zurückweisen, was als fatale Zeitschleife (sorry!) an «Und täglich
grüßt das Murmeltier» erinnert.
3*
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