WÖLFE
Soviel vorweg: Auch wer dicken Historien-Romanen eher ablehnend gegenübersteht, wird in «Wölfe» von Hilary Mantel eine spannende Geschichte finden, die schnell vergessen lässt, dass es so wohl nicht war. Aber durchaus hätte sein können, mit jenem Heinrich VIII, der Kulminations-Figur, um die sich hier letztendlich alles dreht, der mit den sechs Frauen! Pünktlich zu dessen 500ten Thronjubiläum veröffentlicht, bedient dieses Buch ein nationales englisches Mythos. In ihrem Opus magnum vom Ende des Mittelalters widmet sich die streitbare britische Autorin dem politischen Strippenzieher jener Epoche, Thomas Cromwell, mit einer Trilogie. Deren erster Band weist bereits in seinem beziehungsreichen Titel auf die berühmte Sentenz «homo homini lupus» von Thomas Hobbes hin, ‹der Mensch ist dem Menschen ein Wolf›. Der 2009 mit dem Booker-Prize prämierte Erfolgsroman gilt in Großbritannien als ein Jahrhundertwerk.
Es beginnt gleich mit einer wüsten Szene, in der Cromwell von seinem Vater so brutal niedergeschlagen wird, dass er ernstlich um sein Leben bangt. Jahre später bereist er Italien, ist dort als Tuchhändler erfolgreich und absolviert nach seiner Rückkehr ein Studium der Rechtswissenschaft. Schon bald tritt er in die Dienste des Kardinals und Lordkanzlers Thomas Wolsey ein und erweist sich als sehr geschickt und umsichtig in den politischen Ränkespielen am Hofe. Es geht dabei politisch vornehmlich um die Annullierung der Ehe von Heinrich VIII. mit Katharina von Aragon, seiner ersten Frau, die ihm keinen überlebenden männlichen Thronfolger geboren hat. Der König hat ein Auge auf Anne Boleyn geworfen, die aber nicht seine Mätresse sein will, sie will geheiratet werden! Er setzt deshalb alle Hebel in Bewegung, um beim Papst die Ungültigkeit seiner Ehe durchzusetzen. Als Wolsey 1529 sein Amt als Lordkanzler verliert, weil er nicht in der Lage war, in Rom die ersehnte Annullierung durchzusetzen, steigt Thomas Morus zu dessen Nachfolger auf. Cromwell wird vier Jahre später Schatzkanzler, dann königlicher Sekretär und zweithöchster Richter. Skrupellos setzt er durch, dass der König anstelle des Papstes das Oberhaupt der anglikanischen Kirche wird, und genau damit ermöglicht er endlich die Scheidung. Thomas Morus hingegen weigert sich aus moralischen Gründen, einen entsprechenden Eid zu leisten, und wird deshalb 1539 hingerichtet.
So weit der reale Handlungskern, dem der Roman eine fiktional üppig angereicherte Rahmen-Geschichte hinzufügt, deren verwickelte Intrigen und politischen Winkelzüge in epischer Breite vor dem Leser ausgewalzt werden. Emsig tätig in all dem turbulenten Geschehen ist ein schier unüberschaubares Figuren-Ensemble, bei dem selbst die Autorin Schwierigkeiten hatte, den Überblick nicht zu verlieren. Wie sie im Interview erklärte, hat sie sich dabei eines Zettelkastens mit Dateikarten über jede der handelnden Personen bedient, - im Buch kann sich der Leser immerhin auf eine fünfseitige Liste aller Akteure stützen. Hilary Mantel erzählt im Präsens, was ihren Stoff sehr gegenwärtig wirken lässt, weit entfernt vom schwülstigen Mief konventioneller Historien-Romane. Sie enthält sich dabei jeder Interpretation des turbulenten Geschehens, das in seiner dramatischen Wucht zuweilen durchaus an Shakespeare erinnert.
Bleibt die Frage, welche Lesefrüchte einen nicht-britischen Leser ohne emotionale Bindung an vaterländische Mythen erwarten. Da ist zunächst mal die Auffrischung und Ergänzung historischen Wissens über den schlagwortartig ja allgemein bekannten königlichen Blaubart sowie über seinen skrupellosen Drahtzieher Cromwell und dessen Intimfeind Thomas Morus. Dann aber auch die stilistisch hochmoderne Form, in der hier zuweilen sogar recht amüsant erzählt wird, ohne dabei vor lauter unterhaltsamer Fiktion je die gesicherten Fakten zu vergessen. Die vielen kammerspiel-artigen Szenen in diesem Machtpoker überspielen in ihrer Privatheit gekonnt die Düsternis der blutrünstigen historischen Realität.
3* lesenswert - Bories vom Berg - 3. September 2021
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