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YULIA MARFUTOVA

 

DER HIMMEL

 

VOR HUNDERT JAHREN

 

Unter Iljanisten und Pjotrianern

 

Die in Moskau geborene und derzeit in Boston als Literatur-Dozentin tätige, deutsche Schriftstellerin Yulia Marfutova hat mit ihrem Debüt-Roman «Der Himmel vor hundert Jahren auf Anhieb den Sprung auf die Kandidatenliste für den deutschen Buchpreis 2021 geschafft. Beschrieben wird darin die archaische Welt einer russischen Dorfgemeinschaft vor hundert Jahren, als das Zarenreich untergegangen, der Bürgerkrieg bereits im Gange war und niemand in der abgeschiedenen Ländlichkeit auch nur das Geringste davon wusste. Das Besondere an diesem vom Feuilleton wohlwollend aufgenommenen Roman ist die ungewöhnliche Sprache, in der er erzählt wird, soviel vorweg.

 

In dem namenlosen Dorf an einem breiten Fluss in den Weiten Russlands leben die Menschen weitab vom Weltenlärm seit Generationen nach ihren eigenen Regeln und Gebräuchen, nicht mal Gerüchte verirren sich hierher. Das Leben ist hart und der Hunger allgegenwärtig, man ist völlig vom Wetter abhängig. Dementsprechend sind auch die Vorhersagen des Dorfältesten Ilja extrem wichtig, man lauscht ehrfurchtsvoll seinen Wetter-Prognosen, die der wortkarge Mann mit Hilfe eines mit silbriger Flüssigkeit gefüllten Glasröhrchens auf geheimnisvolle Weise erstellt. Sein erbitterter Konkurrent ist der abergläubige Pjotr, der für seine Vorhersagen den Fluss, den Wind und die Gräser heranzieht und mit den Flussgeistern auf vertrautem Fuß zu stehen scheint. Beide sind sich in dieser Hinsicht spinnefeind, und beide haben ihre Anhänger, die sich in Iljanisten und Pjotrianer aufteilen. Als der ebenso abergläubischen Inna, der Frau von Ilja, ein Messer herunterfällt, sieht sie dies als untrügliches Zeichen dafür, dass bald ein Fremder im Dorf auftauchen wird. Und tatsächlich, ein abgerissener, junger Mann in einer fadenscheinigen Uniform steht wenig später auf ihrer Türschwelle. Er wird im Haus aufgenommen, sie gibt ihm zu essen, kann aber nichts aus dem schweigsamen Wadik herausbringen, weder woher er kommt, noch was er erlebt hat und vor allem, ob er hier sesshaft werden will.

 

Es ist ein wunderliches Figuren-Ensemble, das diesen Roman bevölkert, stoisch, eigensinnig und zäh, schicksalsergeben und skeptisch, stur an ihren Gewohnheiten festhaltend, Analphabeten allesamt. Auf dem Markt zerreißt man sich nun ständig das Maul über Wadik, der besonders das Interesse der Frauen erregt. Er schnitzt immer nur kleine Holzfiguren, sagt wenig, selbst die junge Anuschka, die im Wald viele geheime Verstecke kennt, bringt nichts aus ihm heraus. Als plötzlich fremde Männer am Fluss auftauchen, die im Roman zunächst einfach als «die Realität» bezeichnet werden, und Pjotr spurlos verschwunden ist, zeichnet sich vage ein Umbruch ab. Ein Krieg der Ideen, wie es angedeutet wird, der allmächtige Gutsherr sei ins Ausland geflüchtet, hört man dazu.

 

Eine Besonderheit dieser aus einer ungewöhnlichen Perspektive erzählten Geschichte ist, dass so gut wie nichts zu Ende erzählt wird, es bleiben extrem viele Leerstellen, und das Erzählte verschwindet oft auch noch im Nebel des Ungewissen, Rätselhaften. Vordergründig werden so Bilder erzeugt, deren tieferer Sinn sich erst aus sorgfältiger Deutung ergibt. Durch diese Erzählweise, in der übrigens immer auch ein unterschwelliger Humor mitschwingt, entwickelt sich eine poetische Geschichte, deren Parabelhaftigkeit das Besondere ist an diesem kreativen Roman. An die Unbeholfenheit naiver Malerei erinnernd werden hier sprachliche Register gezogen, die mit ihrer primitiv anmutenden Diktion stimmig den unbedarften Figuren entsprechen, von denen hier die Rede ist. In kurzen Sätzen wird stakkatohaft und aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt, was oft an sinnloses Kindergeplapper erinnert und dem Text eine erfrischende Leichtigkeit verleiht. Die will eigentlich so gar nicht zum Ernst des Geschehens passen, was ganz offensichtlich aber beabsichtigt ist, spiegelt genau das doch eindrucksvoll die Ahnungslosigkeit der schrulligen Dorfbewohner wider.

 

3* lesenswert - Bories vom Berg - 7. November 2021

 

 

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