HARALD
MARTENSTEIN
HEIMWEG
Hintersinnige
Heimkehrer-Geschichte
Mit dem Roman «Heimweg» hat der vor allem als
streitbarer Journalist und Kolumnist bekannte Schriftsteller Harald
Martenstein im zarten Alter von 53 Jahren sein überzeugendes Debüt
als Romancier vorgelegt. Es ist ein Schlüsselroman, dessen
Protagonisten er der eigenen Familie entliehen hat. Im Interview mit
der FAZ hat er erklärt, er sei ein schlechter Geschichten-Erzähler:
«Ich schmücke aus und schneide weg, was übersteht». Entstanden ist
dabei ein Buch über die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger bis
siebziger Jahre, die ja, als Zeit des Wirtschafts-Wunders verklärt,
nur Gewinner zu haben schien. Es habe ihn gereizt, sie als
Verlierer-Geschichte zu erzählen, ihre Lebenslügen zu entlarven.
Joseph, der Großvater des Ich-Erzählers, kommt
als Heimkehrer aus russischer Kriegs-Gefangenschaft mit einem
Lungendurchschuss und zwei steifen Fingern am Bahnhof an. «Er war
geradezu in Topform, verglichen mit einigen anderen armen Teufeln in
seinem Eisenbahnwagon».
Daheim erwartet ihn ein Blutbad. Ein unbekannter Mann öffnet ihm die
Wohnungstür, er findet seine Frau Katharina nackt in einer Blutlache
liegend, der Fremde hat ihr in den Hals geschossen. Sie überlebt den
Streifschuss. Eine Eifersuchtstat, wie sich herausstellt, der Mann
ist einer der vielen Liebhaber seiner im Rotlichtmilieu arbeitenden
Ehefrau. Sie tritt in der Rheingoldschänke ihrer Schwester Rosalie
als Schleiertänzerin auf. Das Ehepaar versöhnt sich schon bald
wieder, er lässt seiner schönen Frau ihre Freiheiten, und bald
findet er auch eine einfache Arbeit. Genügsam wie er ist, reichen ihm
die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie leben. Er liest viel und
widmet sich seinen Wellensittichen, nebenbei wirkt er auch als
Hausmeister. Rosalie findet einen gutsituierten Mann unter ihrer
Kundschaft, den ihre anrüchige Vergangenheit nicht stört, sie
verkauft ihr Etablissement und heiratet ihn.
In Rückblicken werden, auch weit zurückreichend,
düstere Kapitel der Familiengeschichte aufgerollt. Zu denen gehört
der Mord des Urgroßvaters an seinem Sohn, ferner ein Selbstmord und
die Exekution eines Kommissars der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg.
Den musste Joseph als Truppführer aufgrund des geheimen
Kommissar-Befehls erschießen lassen, wobei er auch noch ohne Not
einen Knaben tötete, der sich in der Nähe herumtrieb. Außer seiner
Frau hat er Niemandem je davon erzählt. Schließlich beginnt mit der
zunehmenden Demenz von Katharina auch die erzählte Geschichte ins
Mystische abzugleiten, tauchen Geister der Vergangenheit als
Besucher auf, lebende Tote sozusagen. Darunter befindet sich auch
der einst in Russland ermordete Knabe, der Ich-Erzähler des Romans,
mit dem Joseph jedoch vereinbart hat, er solle sich als sein Enkel
ausgeben. Und auch Kuhlenkampf, Freddy Quinn und Rudolf Schock
gehören dazu, genüsslich decouvriert der Autor die aus heutiger
Sicht auch medial dröge Nachkriegszeit. Ironisch, fast schon zynisch
schickt er seine Figuren in eine der damaligen wirtschaftlichen
Entwicklung entgegen gesetzte Abwärtsspirale aus Problemen und
Pleiten, Krankheit und Tod.
Er habe, hat der Autor dazu erklärt, die Metapher
von den Geistern der Vergangenheit «halt wörtlich genommen», zurück
reichend bis zum Urgroßvater und zu Heigl, dem bayrischen Robin
Hood. Das zeigt sich sprachlich in den Vergleichen mit der
Gegenwart, die dann oft mit «Heute würde man …» eingeleitet werden
und so den zeitlichen Abstand verdeutlichen. Anfangs wie ein
ironisch erzählter, ins Triviale abzugleiten drohender Roman,
erweist sich diese Heimkehrer-Geschichte später zunehmend als klug
konstruiert und hintersinnig. Das entscheidende Merkmal ist die
darin ausgedrückte moralische Unbestimmtheit, die viel Raum lässt
für eigene Interpretationen. Bei denen sollte man aber trotz der
erst im weiteren Verlauf des Geschehens zum Tragen kommenden,
mystischen Elemente die journalistisch geprägte Nüchternheit des
Autors nicht ganz unberücksichtig lassen, auch wenn da so
ausgesprochen launig erzählt wird.
3*
lesenswert -
Bories vom Berg - 3. Mai 2022
© Copyright 2022
|