PATRICK MODIANO
EINE JUGEND
Genese einer humanitären Befreiung
«1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze
Bevölkerungen verschwunden waren, das muss mich, wie andere meines Alters,
sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben» hat Patrick
Modiano 2014 in seiner Nobelpreisrede erklärt. Und so steht auch sein 1985 auf
Deutsch erschienener Roman «Eine Jugend» unter der Maxime einer «Pflicht der
Erinnerung», erst mit der Übersetzung und Protektion von Peter Handke wurde der
Schriftsteller dann einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Trotz hoher
literarischer Ehrungen aber blieb die Rezeption seines beachtlichen Œuvres eher
verhalten, ein Schicksal, welches er mit vielen anderen großen Schriftstellern
teilt.
«Die Kinder spielen im Garten, und bald ist es Zeit für die
tägliche Schachpartie». Mit diesem Satz beginnt der Roman, geschildert wird eine
Familienidylle in den Bergen. Es ist der Tag vor Odiles 35ten Geburtstag. In dem
Chalet von Louis und seiner Frau haben sie bislang ein Kinderheim betrieben, sie
wollen es jetzt aber allein benutzen, eventuell einen Schuppen zum Restaurant
umbauen. «In Saint-Lô, in jenem Herbst vor fünfzehn Jahren, regnete es tagelang»
heißt es dann nach zehn Seiten, der gesamte Rest des Romans ist ein Rückblick
auf ihre gemeinsame Zeit in Paris.
Nach dem Militärdienst in Saint-Lô lernt Louis den deutlich
älteren Jean-Claude Brossier kennen, der ihm Arbeit bei seinem Freund in Paris
vermittelt, einem zwielichtigen Geschäftsmann namens Bejardy. Louis arbeitet als
Aufsicht in dessen Garage und macht Botendienste für ihn. Eines Tages lernt er
Odile kennen, eine angehende Sängerin, die nach dem Selbstmord ihres Förderers
Bellune völlig aus der Bahn geworfen wird. Durch seine Protektion wurden
Chansons für sie geschrieben und eine Schallplatte aufgenommen, mit der sie sich
bei den Plattenfirmen bewerben konnte. Als die Neunzehnjährige - nach dem Recht
der 1960er Jahre eine Minderjährige - nachts von der Polizei aufgegriffen wird,
verlangt der Kommissar von ihr, der Polizei als Lockvogel bei der Verhaftung
eines gesuchten Vergewaltigers zu helfen. Schließlich findet sie auch einen
Musikagenten, der ihre Probeaufnahmen anhört und ihr eine Anstellung im Varieté
vermittelt. Als er sie darauf – als Gegenleistung sozusagen – in seinem Büro
auszieht, wehrt sie sich nicht, ist ihm zu Willen. Nachdem Louis und Odile ein
Paar geworden sind, verschafft Brossier ihnen eine Wohnung und stellt ihnen
seine schöne äthiopische Freundin vor, eine Studentin, mit der er auf dem Campus
wohnt. Schließlich erhalten sie von Bejardy den Auftrag, eine halbe Million
Franc nach England zu schmuggeln, getarnt als Mitglieder einer Reisegruppe
Jugendlicher zu einem Englischkurs im Seebad Bournemouth. Als sie zurückkommen,
erfahren sie von Brossier, dass er sich mit Bejardy überworfen habe. Von dessen
Freundin hören sie, er werde sich in Kürze nach Argentinien absetzen. Durch
Zufall lernen Louis und Odile in einer Café einen Künstler kennen, in dessen
ehemaligem Atelier sie jetzt wohnen, und der erzählt ihnen, Bejardy sei als
Mörder verhaftet gewesen, mangels Beweisen aber freigesprochen worden. Als
letzten Auftrag - Bejardy hat seine Wohnung bereits aufgelöst - sollen Louis und
Odile für ihn wieder eine halbe Million Franc schmuggeln, diesmal nach Genf. Sie
aber besteigen den Zug nach Nizza.
Bruchstückhaft wird in diesem kurzen Roman der Erinnerung
über soziales Alleinsein erzählt, über eine nebelhafte Zeit der Selbstfindung,
dem Leser wird reichlich Gelegenheit für eigene Reflexionen und Phantasien
gegeben. Der auktoriale Erzähler zeigt seine jugendlichen Protagonisten auf der
Suche nach ihrem Platz in der Welt. Dabei stellt er sie wie emotionslose
Statisten auf seine atmosphärisch dicht beschriebene, literarische Bühne. Er
enthält sich jedweder psychologisierenden Deutung, charakterisiert seine Figuren
vielmehr ausschließlich über das äußere Geschehen, die hindernisreiche Genese
einer humanitären Befreiung.
3*
lesenswert - Bories vom Berg - 26. März 2017
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