CHRISTOPH
PETERS
DORFROMAN
Märkische
Behaglichkeit am Niederrhein
Im Titel «Dorfroman» hat Christoph Peters die
Genrebezeichnung seines neuen Buches bereits benannt, Handlungsort
ist nämlich ein kleines Dorf am Niederrhein, nähe Kalkar. Und mit
dem Ort wird auch gleich die Thematik deutlich, es geht um den
Schnellen Brüter, jenen neuen Kernreaktortyp, der in den 70er Jahren
an diesem Standort gebaut wurde. Und wie an den anderen
Brennpunkten im Kampf gegen die Atomlobby, so entsteht auch in der
kleinen Ortschaft ein improvisiertes Lager streitbarer
Atomkraftgegner, direkt gegenüber dem Bauplatz des Atommeilers, auf
der anderen Rheinseite.
Der in Berlin lebende Ich-Erzähler besucht seine
Eltern in Hülkendonck, dem Ort seiner Kindheit, beide sind schon
lange im Ruhestand. Bereits bei der Anfahrt mit dem Auto werden beim
Anblick vieler vertrauter Plätze manche Erinnerungen wieder in ihm
wach. Vieles hat sich zwar verändert, seit er vor dreißig Jahren
dieses Kaff verlassen hat, aber manches ist ihm immer noch wohl
vertraut. In seinem ehemaligen Kinderzimmer stößt er dann auf all
die Dinge, die dort noch immer für ihn aufbewahrt werden, und mit
jedem einzelnen verbinden sich irgendwelche Geschichten aus seinem
Leben damals. Sein Vater war Meister in einem Betrieb für
Landmaschinen, ist in dem bäuerlich geprägten Dorf geboren und kennt
fast jeden. Die Mutter stammte aus der Stadt, als Lehrerin aber ist
sie hier schon bald ebenfalls eng verwurzelt. Der geplante Bau des
Reaktors spaltet die Dorfgemeinschaft nun in zwei Lager. Der Vater
des Ich-Erzählers gehört als Kirchenvorstand, anders als seine
Kollegen dort, entschieden zu den Reaktor-Befürwortern. Durch ihren
Beschluss, das der Kirche gehörende Baugelände nicht zu verkaufen,
blockiert eine deutliche Mehrheit im Kirchenvorstand aber den
Verkauf, die Auseinandersetzungen im Dorf eskalieren. Die meisten
versprechen sich neue Arbeitsplätze, und die Kirchenoberen freuen
sich schon auf das viele Geld, mit dem dann auch die uralte Kirche
saniert werden könnte.
Der Roman schildert sehr anschaulich das behütete
Leben des Helden, das familiäre Zusammenleben, die Nachbarn, Freunde
und all die Bauern, die das Dorfleben prägen. Es ist die Zeit des
Wirtschaftswunders mit ihrer spießigen Nierentisch-Romantik. Eine
geistige Ödnis, zu der vor allem auch ein naiver Katholizismus
beiträgt, von dem er sich aber in der Pubertät allmählich immer mehr
abwendet. Entscheidend ist dabei Juliane, eine sechs Jahre ältere
Aktivistin aus dem benachbarten Protestcamp, in die er sich als fast
Sechzehnjähriger unsterblich verliebt hat und mit der er schließlich
auch seine Initiation erlebt. Als Schmetterlings-Sammler mit dem
schwärmerischen Berufswunsch ‹Tierschützer› á la Grzimek oder
Sielmann entwickelt er sich unter Julianes Einfluss zum
Atomkraftgegner. Seinem drögen Leben in dörflicher Idylle wird im
Roman mit dem ‹Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll› der skurrilen Typen des
Protestcamps ziemlich brutal ein alternativer Lebensentwurf
gegenüber gestellt. Der Roman lebt vor allem von diesem extremen
Spannungsfeld.
Mit seiner ruhigen Erzählweise erinnert der Autor
ein wenig an Fontane, anschaulich schildert er das ländliche Milieu
einer wohlversorgten Familie aus dem Mittelstand und die Sitten und
Gebräuche am Niederrhein. Die Sprache ist der kindlichen Perspektive
seines jugendlichen Helden stimmig angepasst, wobei vor allem dessen
naive Naturliebe, die ja in krassem Widerspruch steht zum
ökologischen Wahnsinn des Atomreaktors, in wunderbaren
Naturbeschreibungen zum Ausdruck kommt. Nicht ganz verständlich ist,
warum im Roman von Calcar geredet wird, obwohl die kleine Stadt seit
1936 offiziell Kalkar heißt. Und dass der Heranwachsende mit seiner
promiskuitiven Geliebten sich selbst unverändert als Kind bezeichnet
ist ebenfalls fragwürdig. Von den Figuren wirkt besonders der Vater
als ein stimmig beschriebener, kantiger Charakter fontanescher
Prägung überaus sympathisch, märkische Behaglichkeit also auch am
Niederrhein!
3*
erfreulich - Bories vom Berg
- 18. November 2020
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