HIER SIND LÖWEN
In ihrem dritten Roman «Hier sind Löwen» beschreibt Katerina Poladjan, in Moskau geborene Schriftstellerin mit armenischen Wurzeln, eine Spurensuche ihrer autobiografisch inspirierten Protagonistin. Die Autorin selbst hatte 2015 eine Reise in die Heimat ihrer Vorfahren unternommen, aus der das SWR2-Feature «Zwischen Aragaz und Ararat» entstanden ist. Der ins Deutsche übersetzte Titel ihres Romans bezieht sich auf den in antiken Landkarten verwendeten Hinweis «Hic sunt leones» für unerforschte Gebiete. Hier im Roman weist er auf die Leerstellen in der Familiengeschichte einer Buchrestauratorin ebenso hin wie auf die unzureichende Aufarbeitung des Genozids am armenischen Volk. Der Großvater der Autorin hatte diese von vielen Türken bis heute geleugneten Massaker als Kind überlebt.
Helen Mazavian, eine deutsche Buch-Restauratorin, deren Vorfahren aus Russland und Armenien stammen, reist in die armenische Hauptstadt Jerewan, um dort im Archiv für Handschriften ein dreihundert Jahre altes Evangeliar zu restaurieren und die traditionelle Buchbindekunst zu studieren. Man erfährt wenig über sie, häufig telefoniert sie mit ihrem Freund in Deutschland, die Beiden scheinen engstens miteinander vertraut zu sein, was Helen aber nicht hindert, schnell mal mit dem Sohn der Archiv-Leiterin ins Bett zu gehen. Der tritt gelegentlich als Jazzmusiker in einem Club auf und ist, wie sie später erfährt, Offizier der armenischen Streitkräfte, ein Musikstudium in Moskau hatte er, sehr zum Verdruss seiner Mutter, entschieden abgelehnt. «Mein Sohn sagt, er muss für ein starkes und unabhängiges Armenien kämpfen, aber er kämpft gegen Windmühlen, denn wer wirklich in Bergkarabach kämpft, das sind die Russen, die Türken und die Amerikaner, wir sind nur die Marionetten» schimpft sie.
In ihrem Evangeliar findet Helen viele handschriftliche Einträge, Familienbibeln wurden früher oft mit solchen persönlichen Anmerkungen versehen, und ihre Kollegen helfen ihr gern beim Entziffern und Übersetzen. Eine dieser Randnotizen lautet: «Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht». Dieses «Mach» ist eine verzweifelte Bitte an Gott und Inspiration für einen zweiten Handlungsstrang. Im ständigen Wechsel nämlich und in kurzen Szenen wird der Spurensuche in der Jetztzeit die märchenartige Geschichte zweier Kinder gegenübergestellt, die 1915 als einzige aus ihrer Familie den Pogromen entkommen sind und mit einem in Leder eingeschlagenen Evangeliar herumirren, das Helen nun hundert Jahre später zu restaurieren hat. Dieser historische Handlungsfaden bewirkt eine ständige, unheilvolle Präsenz des ‹Aghet›, wie die Armenier die Katastrophe des Völkermords bezeichnen. Angeregt durch den Auftrag ihrer Mutter, ihren Aufenthalt in Jerewan doch auch zu nutzen, um nach familiären Spuren zu suchen, vor Ort inspiriert zudem noch durch ein aufkommendes Heimatgefühl, lässt Helen nichts unversucht, trifft viele hilfsbereite Menschen, ohne aber letztendlich Klarheit über ihre Herkunft zu bekommen. Nur ihr Evangeliar ist am Ende fertig geworden, sie zeigt es stolz ihrem Freund, der ihr nachgereist ist, um sie nach Hause zu holen, im Institut legt sie in seinem Beisein letzte Hand an die komplizierte Bindung.
Es bleibt vieles offen in diesem fragmentiert erzählten, poetischen Roman, dessen Protagonistin seltsam entrückt wirkt und deren Psyche sich allenfalls in den stimmigen Dialogen ein wenig erschließt. Ziemlich verwirrend ist zudem die ausufernde Fülle von Figuren. Der hart an Kitsch grenzende, gefühlsbetonte Plot ist denn doch zu weit hergeholt, was seine durch das Evangeliar arg willkürlich verknüpften beiden Handlungsstränge anbelangt. Das Ganze wird zudem geradezu pathetisch erzählt selbst in den durchaus bereichernden Passagen, in denen das genuin Handwerkliche des alten Volksevangeliars beschrieben wird. «Hic sunt leones» gilt letztendlich also auch für die vielen Leerstellen dieses Romans, der sich allzu sehr auf das rein Atmosphärische stützt!
1* miserabel - Bories vom Berg - 10. Januar 2020
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