

MARCEL PROUST
EINE LIEBE SWANNS
Vinteuils Phrase und die Cattleyas
Einer der Götter im literarischen Olymp ist neben Joyce und
Musil der französische Schriftsteller Marcel Proust, bei dessen Namen einem
sofort auch sein monumentales Hauptwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit»
in den Sinn kommt, häufig - abgekürzt nach dem Originaltitel - einfach nur
«Recherche» genannt. Dieser siebenbändige Romanzyklus beginnt mit dem Band
«Unterwegs zu Swann», den der Autor 1913 auf eigene Kosten veröffentlichen hat,
weil das Manuskript von André Gide, dem damaligen Lektor des Verlages Gallimard,
abgelehnt worden war - sein größter Fehler, wie Gide später dann zugegeben
musste. Der Mittelteil dieses ersten Bandes wiederum ist «Eine Liebe Swanns»,
die in sich abgeschlossene Geschichte einer Amour fou in der gehobenen Pariser
Gesellschaft des Fin de Siècle.
Charles Swann, ein reicher Lebemann mit künstlerischem
Interesse, der in den allerhöchsten Kreisen verkehrt, lernt im Salon der
Verdurins Odette de Crécy kennen, eine für ihn zunächst wenig anziehende,
bereits verwelkende Dame mit zweifelhaftem Ruf. Aber Swanns Zuneigung wird
plötzlich geweckt, als er in ihren Zügen eine Ähnlichkeit mit Sephora, einer
Figur auf dem Fresko von Botticelli in der Sixtinischen Kapelle zu erkennen
glaubt, - sie kommen sich allmählich näher. Zum Leitmotiv ihrer aufkeimenden
Liebe wird eine Melodie, eine kleine Phrase bei Vinteuil, die sie beide tief
ergriffen im Salon der Verdurins hören. Und als Swann ihr beim Drapieren von
Cattleyablüten am Ausschnitt ihres Kleides näherkommt, sogar die erste
Liebesnacht damit einleitet, wird die Metapher «Cattleya spielen» für sie zum
verschlüsselten Stichwort. Der Zweifel an Odettes Ruf ist nicht zuletzt auch in
den von ihr ständig beklagten finanziellen Nöten begründet, Swann unterstützt
sie großzügig mit beträchtlichen monatlichen Zuwendungen, ohne sich in seinem
Liebesrausch dieser profan materiellen Seite ihrer Beziehung wirklich bewusst zu
sein. Nach einiger Zeit des Hochgefühls stellt sich bei ihm - durchaus nicht
unbegründet - Eifersucht ein, er glaubt sich zunehmend vernachlässigt und leidet
schlimme Qualen an seiner obsessiven Liebe. Bis es ihm schließlich nach einer
längeren Auslandsreise von Odette gelingt, sich völlig aus seiner
schicksalhaften Verstrickung zu lösen, diese Frau realistisch als das zu sehen,
was sie wirklich ist, eine gewöhnliche, ungebildete, treulose Kurtisane.
Derartige Sujets hat man schon öfter angetroffen in Romanen,
was Proust jedoch unterscheidet und auszeichnet ist die unglaubliche sprachliche
Virtuosität, mit der er seine Erzählung vor uns ausbreitet, sowie die Fülle an
immer neuen Facetten, die er seinem Thema abgewinnen kann, dabei ständig neue
Assoziationsketten auslösend. Was von manchen Lesern als langatmig empfunden
wird, ist in Wirklichkeit eine grandiose Fähigkeit des Autors, alle Aspekte
eines Geschehens, selbst die geheimsten Tiefen in der Seele seiner Figuren
auszuleuchten, uns sichtbar zu machen. Häufig wenn man meint, ein Detail wäre
nun umfassend geschildert, wird man verblüfft damit konfrontiert, dass ihm noch
etliche andere Eigenschaften innewohnen, über die zu lesen sich ebenfalls lohnt.
Insoweit ist Marcel Proust ein unübertroffener Perfektionist, ein Solitär unter
den Romanciers.
Swann erkenne den gesellschaftlichen Rang eines Salons
bereits an wenigen Namen der Teilnehmer eines Diners, «so wie ein
Literaturkenner bereits beim Lesen eines Satzes die literarischen Qualitäten
seines Autors richtig einzuschätzen weiß» heißt es an einer Stelle. Viel mehr
wird auch nicht nötig sein, um an einigen Sätzen aus seiner Feder den Autor
Proust zu erkennen, schon an der für ihn typischen mondänen, dekadenten
Gesellschaft, die seine literarische Spielwiese ist. Wie schön außerdem, können
Sprachsüchtige doch fast unbegrenzt weiterlesen in diesem riesigen Romanzyklus,
der über sein Titelthema letztendlich dahingehend aufklärt, man müsse einen
Roman schreiben (sic!), um die verlorene Zeit zu finden.
5* erstklassig
- Bories vom Berg - 27. August 2015

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