ALEXANDER PUSCHKIN
ERZÄHLUNGEN
In Russland gilt Alexander Puschkin als der Nationaldichter par excellence, mit seinem Œuvre war er stilbildend als Wegbereiter der nach 1812 statt in französisch zunehmend in Landessprache geschriebenen Literatur, zugleich aber auch Vorbild für viele andere berühmte Dichter des Landes. Als Lyriker, dessen bedeutendste Werke als Versepen geschrieben sind, wandte er sich erst sieben Jahre vor seinem frühen Tod beim Duell der Prosa zu und leitete damit die Wende von der Romantik zum Realismus ein. Er hat nur drei Romane geschrieben, davon sind zwei unvollendet geblieben, wesentlich bekannter aber sind seine Erzählungen. In der vorliegenden dtv-Ausgabe «Erzählungen» von 2017 sind alle enthalten, die er selbst vollendet hat, ferner auch die drei Romane, von denen zwei nur Fragmente sind.
Puschkins Urgroßvater Ibrahim, ein Kriegsgefangener aus dem äthiopischen Adel, der vom Zaren adoptiert worden war und am Hof Karriere machte, hat ihn zu dem unvollendeten Roman «Der Mohr Peters des Großen» inspiriert. Als Peter I. für ihn die Ehe mit einem adligen Fräulein arrangiert, bricht für das Mädchen eine Welt zusammen, obwohl an dem klugen, sympathischen, blendend aussehenden Bräutigam alles stimmte, - nur eben die Hautfarbe nicht. Der Ausbruch einer Cholera-Epidemie zwang Puschkin Ende 1830 zu einer dreimonatigen Quarantäne auf seinem Landgut, er nutzte die Zeit dort unter anderem, um «Die Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin» zu schreiben. Er selbst schlüpft bei diesen fünf Erzählungen ironisch in die Herausgeber-Rolle und berichtet in «Der Schuss» von einem äußerst seltsamen Duell zweier Offiziere. «Der Schneesturm» handelt von einer tragisch-komischen Eheschließung, an deren kuriosem Ausgang das Wetter schicksalhaft beteiligt ist. Zur Einweihung seines neuen Hauses lädt «Der Sargschreiner» im Suff alle von ihm Beerdigte ein. In «Der Postmeister» brennt dessen schöne Tochter mit einem durchreisenden Husaren durch. «Fräulein Bäuerin» wiederum handelt von der Liebe zwischen der Tochter eines Gutsbesitzers und dem Sohn aus einem verfeindeten Nachbarngut, gegenüber dem sie sich als Magd ausgibt. Landesverrat und eine politisch unmögliche Liebe sind Thema des Prosa-Fragments «Roslawlew», im unvollendeten Räuberroman «Dubrowskij» eskaliert der Streit zwischen benachbarten Gutsbesitzern zu einer Katastrophe. Ein Ich-Erzähler berichtet in dem spannenden historischen Roman «Die Hauptmannstochter» vom Pugatschow-Aufstand, in «Pique Dame» ist die Spielsucht das Thema, in «Kirdshali» wird die Geschichte eines berüchtigten Räubers während des Russisch-Osmanischen Krieges erzählt. Kleopatra schließlich bietet sich in «Ägyptische Nächte» jedem Manne für eine heiße Liebesnacht an und verlangt dafür nicht weniger als seinen Tod am nächsten Morgen!
Stilistisch ist Puschkins Prosa durch eine straffe, dialogarme, äußerst zielgerichtete Erzählweise gekennzeichnet, die völlig unprätentiös und mit einer fein durchscheinenden Ironie das Milieu schildert, aus dem er selbst stammte, Adel und Gutsherren also. Seine durchweg sympathischen Figuren sind anschaulich beschrieben, die Männer meistens als ehemalige Offiziere, die Damen als gelangweilte Hausherrin oder Tochter in heiratsfähigem Alter. Ehen werden von den Eltern standeskonform arrangiert, was oft zu Dramen führt, wegen meist unüberwindbarer Standesgrenzen aber letztendlich doch folgsam hingenommen wird.
«Der gebildete Leser weiß, dass Shakespeare und Walter Scott ihre Totengräber als fidele Possenreißer geschildert haben», heißt es in Puschkin Geschichte zu diesem Thema, an anderer Stelle lesen wir: «Sie dachte… aber lässt sich denn mit Sicherheit sagen, woran ein siebzehnjähriges Mädchen denkt, das am frühen Morgen um sechs im Walde mit sich allein ist?» Es ist dieses Augenzwinkern, das sogar seine Figuren zuweilen real zeigen, welches diese vom Plot her überaus kunstvoll angelegten Erzählungen zu einer ebenso unterhaltsamen wie bereichernden Lektüre machen.
4* erfreulich - Bories vom Berg - 31. März 2020
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