SASHA
MARIANNA SALZMANN
IM MENSCHEN
MUSS ALLES
HERRLICH SEIN
Unsentimentale
Migrations-Geschichte
Mit dem bei Tschechow entlehnten Titel «Im
Menschen muss alles herrlich sein» hat die in Wolgograd geborene
Sasha Marianna Salzmann in ihrem zweiten Roman ironisch auf die
Realität in der Sowjetunion hingewiesen. In dieser korrupten,
menschen-verachtenden Diktatur wirkte nämlich die Aufforderung,
etwas aus sich zu machen, wie der blanke Hohn. Die zwei Generationen
umfassende Geschichte überspannt einen Zeitraum von fünf
Jahrzehnten und demonstriert die Verhältnisse am Beispiel zweier
Freundinnen und ihrer Töchter während der 1970er bis in die 1990er
Jahre sowie ihre Schicksale nach der Emigration bis ins Jahr 2015.
Die Feier zum 50ten Geburtstag von Lena, der
wichtigsten Protagonistin, umschließt diesen zweiteilig aufgebauten
Roman klammerartig. Im ersten Teil wird von ihrer Kindheit in
Gorlowka erzählt, dem ehemaligen Kaliningrad in der heutigen
Ukraine. Während der Sommerferien staunt sie bei ihrer Großmutter in
Sotschi über die mondäne Gesellschaft in dem Badeort, die in krassem
Kontrast steht zu den ärmlichen Verhältnissen, in denen ihre Oma
dort lebt. Später verbringt die herausragende Schülerin ihre Ferien
jeweils in einem Pionierlager und beendet schließlich die Schule mit
Auszeichnung. Trotzdem fällt sie durch die Aufnahmeprüfung für ein
Medizinstudium. Erst im zweiten Anlauf wird sie angenommen, weil
ihre Mutter als Leiterin eines Chemiewerkes all ihre Beziehungen hat
spielen lassen. Und wie Lena später als Ärztin erkennen muss, ist
auch das Gesundheitswesen durch und durch korrupt. Mit 24 heiratet
sie schließlich eine Partybekanntschaft und bekommt ihre Tochter
Edita. Irgendwann gibt sie dann dem Drängen ihres jüdischen Mannes
nach, in den Westen auszuwandern, sie landen in Jena. Eines Tages
ruft dort die ehemalige Friseuse Tatjana an, eine gute Freundin
ihrer Cousine aus Mariupol. Ihr deutscher Freund hat sie in Berlin
sitzenlassen, nachdem sie schwanger wurde und Nina geboren hat. Nun
bittet sie Lena um Hilfe und bekommt sie auch, die beiden Frauen
werden beste Freundinnen. Ihre Töchter aber können wenig miteinander
anfangen, die lesbische Edita als ewiges Enfant terrible und die
eigensinnige Journalistin Nina sind gar zu verschieden.
Eingebettet in diese multiperspektivisch erzählte
Geschichte mit den doppelten Psychogrammen ihrer sich ebenso
russisch-ukrainisch wie deutsch fühlenden Protagonistinnen sind
genau beobachtete Szenen aus dem Alltag der völlig ungleichen
Figuren. Allen gemeinsam sind ihre Probleme, sich in die deutsche
Gesellschaft einzuleben, mit der sie sich streng rational
auseinander setzen müssen, während die Heimat rein emotional
beurteilt wird. Über Kinder heißt es an einer Stelle im Buch
geradezu defätistisch: «Das Leben läuft
einem aus dem Ruder, also setzt man ein weiteres Glied in diese
Kette, in die man selbst eingespannt wurde. Dann ist man wenigstens
dort nicht der letzte Depp, da kommt noch eine nach mir». Diese
desaströsen Mutter-Tochter-Beziehungen sind einerseits geprägt von
Verlusterfahrungen der Mütter und andererseits von der schwierigen
Identitätssuche der Töchter. Die
Männer aber sind allenfalls Randfiguren in diesem vielschichtigen
Roman, über sie verliert die sich selbstbewusst als ‹nonbinär›
outende Autorin kaum ein Wort.
Der unsentimental erzählte Roman zeichnet mit
geradezu sezierendem Blick und in wunderbar einprägsamen Bildern ein
Panorama des auf die Perestroika folgenden Chaos, an den sich für
die Migrantinnen ein dornenreicher Neuanfang anschließt. Ihr
schwieriges Leben war mitbestimmt von ethnischen Spannungen und den
politischen Konflikten im Donbas und im Kaukasus. Erzählerisch fehlt
es aber auch nicht an Humor, wie er am deutlichsten bei der
jüdischen Geburtstagsfeier am Ende zum Tragen kommt. Im zweiten Teil
des Romans verliert sich diese Fabulierlust allerdings ein wenig und
es entstehen Lücken im Erzählfluss dieses äußerst komplex gebauten
Romans, der fast alles fühlbar macht, aber so gut wie nichts
erklärt.
3* lesenswert -
Bories vom Berg - 6. Dezember 2021
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