MAMAN
Die in Frankreich geborene Sylvie Schenk bedient mit ihrem autofiktionalen Roman «Maman» ein beliebtes Genre der Belletristik, die Suche nach der eigenen Identität. Der schmale Band befasst sich mit dem Leben von nicht weniger als vier Frauen, beginnend bei der Urgroßmutter über die Großmutter, die Mutter und schließlich die Ich-Erzählerin selbst als deren Tochter. Überhaupt stehen Frauen im Fokus, allein aus der eigenen Familie sind es fast ein Dutzend. Dabei stoßen die zweihundert Jahre zurück reichenden Recherchen auf eine extrem spärliche Faktenlage, bedingt unter anderem durch die zwei Weltkriege. Wie der Buchtitel zeigt, geht es um die Mutter der namenlos bleibenden, in Frankreich geborenen Tochter. Das lebenslang distanzierte Verhältnis der verstorbenen Mutter zu ihrer Tochter ist jedenfalls sehr ungewöhnlich und lässt ihr keine Ruhe. Als Schriftstellerin will sie nun ein Buch schreiben, in dem sie das Leben ihrer Mutter rekapituliert, ein aktuell häufig anzutreffendes Roman-im-Roman-Konstrukt, auf das man auch hier bei der Lektüre immer wieder mal stößt.
Wo Fakten fehlen, werden sie in dieser verzweifelten Aufarbeitung der Vergangenheit kurzerhand durch Vermutungen und emotionale Ergänzungen ersetzt. In nicht weniger als 62 kurzen Kapiteln (bei 173 Seiten!) wird hier eine sehr engagierte, persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft geschildert. Durch viele Gespräche mit den Verwandten, Recherchen bei allerlei Behörden, mit nur wenigen Dokumenten und Fotos versucht die Protagonistin verzweifelt, Licht in das fast schon unheimliche Dunkel zu bringen, welches die seltsam gestörte Empathie ihrer Mutter für sie persönlich bedeutet. Was hat dazu geführt, dass die Mutter so anders war als andere Mütter? Und es kommen zuweilen sogar Selbstzweifel auf: Ist sie womöglich selber schuld an dem gestörten Verhältnis? Jene jedoch, die ihr erzählen könnten, was vor vielen Jahren war, was ihrer Mutter widerfahren ist, sind schon lange tot und haben ihr Wissen mit ins Grab genommen. Die Mutter selbst war ja immer wortkarg, hat nie von ihrem Leben erzählt, hat die vermeintlichen Geheimnise auch auf Nachfrage immer bei sich behalten.
In den miteinander verschachtelten Kapiteln werden mutmaßliche Ereignisse und alle - die vielen Lücken ergänzenden - Gedankengänge der Autorin kurz angerissen, eine angesichts der Faktenlage sinnvolle, fraktionelle Erzählweise für diese Thematik. Weil aber all das, auch zeitlich, ziemlich sprunghaft geschieht, ist man sich nie ganz sicher, was hier Dichtung und was Wahrheit ist. Gleich in den ersten Kapiteln erfahren wir von den Nöten einer ungewollten Schwangerschaft in jenen Zeiten, wo es noch selbstverständlich war, dass ungewollte Kinder einfach den Behörden übergeben wurden, wo man sie dann möglichst bald zur Adoption weitergereicht hat. Erschütternd zu lesen, wie man da mit Babys umgegangen ist, welche freudlose Kindheit ihnen bevorstand, wenn sie als Kleinkind an arme Bauern «vermietet» wurden, für die sie nur eine billige Arbeitskraft waren und kein neues Familienmitglied. Genau das ist der Mutter widerfahren, und die Ich-Erzählerin berichtet mangels Fakten sehr emotional davon. Es wird aber auch deutlich gemacht, dass die prekäre Lage der Mütter sich in der weiblichen Ahnenreihe häufig weitervererbt. Die Mutter hat genau dieses, ihr ganzes Leben prägende Schicksal erlitten.
Unklare Herkunft und zweifelhaftes Selbstbild werden hier in einem erschütternden «Sarg aus Worten», beginnend mit dem Tod der Großmutter, glaubhaft als Ursachen verschiedener seelischer Bedrängnisse dargestellt. Die Fülle der angerissenen Themen steht unter der ständigen Frage nach dem «Was wäre wenn». Für die gewählte erzählerische Kurzform wirkt die Thematik des Romans eindeutig überambitioniert, zumal hier ja ein ernstes seelisches Problem behandelt wird, das für verschiedene psychische Erkrankungen ursächlich ist. Diese Überforderung schmälert leider ebenso wie das oft unklare Zusammenspiel von Fakten und Fiktionen in einer sprunghaften Erzählweise den Lesegenuss erheblich.
2* mäßig - Bories vom Berg - 18. 06 2024
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