TRAUMNOVELLE
Die «Traumnovelle» gehört zum Spätwerk des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler, der mit seiner Dichtung die Öffentlichkeit des Fin de Siècle immer wieder in helle Aufregung versetzt hat. Als promovierter Arzt demaskierte er nämlich unbeirrt die verlogenen sexuellen Konventionen der damaligen Gesellschaft, die er einer ebenso hellsichtigen wie unerbittlichen psychischen Analyse unterzog, was ihn als literarischen Mitstreiter seines Landsmannes Sigmund Freud ausweist (siehe PS). Er nahm in gleicher Schärfe den absurden Ehrenkodex des Militärs ins Visier, aber auch die unverhohlen antisemitische Stimmung breiter Kreise der österreichischen Bevölkerung. Besonderen Anstoß jedoch erregte die Thematisierung von Sexualität in seinem dichterischen Werk, wobei die Szenenreihe «Reigen» von 1901 die wohl heftigsten Skandale heraufbeschwor, denen dann jahrzehntelange Aufführungsverbote folgten. Und auch die 1926 erschienene Traumnovelle mit ihrer den Zeitgenossen unanständig erscheinenden Handlung wurde damals angefeindet. Ist hier doch, seiner Vorliebe für psychische Themen folgend in einer zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierenden Geschichte, unterdrückte Sexualität am Beispiel eines typischen bürgerlichen Ehepaares jener Zeit dargestellt. Deren Triebleben bildet eine – noch Jahrzehnte später anzutreffende – Wirklichkeit ab, in der die Frau völlig naiv und unerfahren jungfräulich in die Ehe geht, der Mann hingegen sich sprichwörtlich «schon die Hörner abgelaufen hat».
Fridolin ist Arzt und treusorgender Ehemann, Albertine brave Ehefrau und Mutter eines kleinen Mädchens. Nach einem Maskenball, durch heftige Flirts in aufgeputschter Stimmung, erzählen sie sich von erotischen Erlebnissen während des Urlaubs in Dänemark. Sie hatte sich in einen markigen Dänen verguckt, er war am Strand einem blutjungen nackten Mädchen begegnet, keiner von ihnen aber war untreu geworden. Entsprechend aufgestachelt hat Fridolin nun am folgenden Tage einige Begegnungen mit willfährigen Frauen, erreicht nachts schließlich voller Neugier sogar unerlaubt Zutritt zu einer geheimnisvollen Orgie mit maskierten nackten Weibsleuten, er widersteht jedoch dem allen und bleibt treu.
Als er früh um Vier nach Hause kommt, wacht Albertine auf und erzählt ihm ihren Traum. Sie waren auf Hochzeitsreise, haben sich auf einer Wiese geliebt, beim Aufwachen seien alle ihre Kleider verschwunden gewesen. Er habe sich auf die Suche danach begeben, da sei der Däne erschienen und habe im Beisein vieler anderer nackter Paare mit ihr geschlafen. Fridolin aber sei verhaftet und nackt in Ketten gelegt worden, die Fürstin wollte ihn begnadigen, wenn er ihr Liebhaber würde, sie habe ausgesehen wie das junge Mädchen am Strand. Fridolin sei standhaft geblieben, wurde deshalb ans Kreuz geschlagen, sie aber, Albertine, habe ihn ausgelacht.
Am nächsten Tag versucht Fridolin ergebnislos, seine Erlebnisse aufzuarbeiten, kehrt schließlich resigniert zu Albertine zurück und beichtet ihr alles. Auf seine Frage, was sollen wir tun, antwortet sie: «Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, dass wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklichen und aus den geträumten». In seiner vor Metaphorik und Symbolik nur so strotzenden, rasant erzählten Geschichte dringt Schnitzler tief hinein in das Seelenleben seiner beiden Figuren, macht ihre einer verlogenen Moral wegen unterdrückte Sexualität sichtbar, deckt unterschwellig vorhandene Triebe auf. Bemerkenswert ist, dass Fridolin reale Erlebnisse hat, Albertine jedoch nur träumt, der Autor also – unbewusst? – damit spezifische Unterschiede der Geschlechter postuliert in seinem Plot. Sie ist auf seine vorehelichen Erfahrungen neidisch, missgönnt sie ihm sogar und kann sich nun, nachträglich nur und, will sie ihm treu bleiben, auch nur im Traume ihre geheimen sexuellen Wünsche erfüllen, ihr bleibt also nur das für sie erregende Gespräch mit ihrem Mann über ihre diesbezüglichen Phantasien. Verbalerotik mithin, Stanley Kubrick hat genau das in «Eyes Wide Shut» – prüde amerikanisch natürlich – filmisch umgesetzt. Schnitzlers Novelle zu lesen hingegen ist deutlich interessanter und regt weit mehr zum Interpretieren und Nachdenken an.
3* lesenswert - Bories vom Berg - 14. September 2014
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Der nachfolgende Brief vom 14. Mai 1922 kündet von der Bewunderung Sigmund Freuds für Arthur Schnitzler:
Verehrter Herr Doktor
Nun sind auch Sie beim 60sten Jahrestag angekommen, während ich, um 6 Jahre älter, der Lebensgrenze nahegerückt bin und erwarten darf, bald das Ende vom fünften Akt dieser ziemlich unverständlichen und nicht immer amüsanten Komödie zu sehen....
Ich will Ihnen ... ein Geständnis ablegen, welches Sie gütigst aus Rücksicht für mich für sich behalten und mit keinem Freunde oder Fremden teilen wollen. Ich habe mich mit der Frage gequält, warum ich eigentlich in all diesen Jahren nie den Versuch gemacht habe, Ihren Verkehr aufzusuchen und ein Gespräch mit Ihnen zu führen (wobei natürlich nicht in Betracht gezogen wird, ob Sie selbst eine solche Annäherung von mir gerne gesehen hätten).
Die Antwort auf diese Frage enthält das mir zu intim erscheinende Geständnis. Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. Nicht etwa, daß ich sonst leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu identifizieren oder daß ich mich über die Differenz der Begabung hinwegsetzen wollte, die mich von Ihnen trennt, sondern ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis - was die Leute Pessimismus heißen -, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit. (In einer kleinen Schrift vom J. 1920, "Jenseits des Lustprinzips", habe ich versucht, den Eros und den Todestrieb als die Urkräfte aufzuzeigen, deren Gegenspiel alle Rätsel des Lebens beherrscht.) So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition - eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung - alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war, und wenn Sie das nicht wären, hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft, freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht...
In herzlicher Ergebenheit Ihr Freud
(Sigmund Freud, "Briefe" 1873-1939, ed. Ernst L. Freud, Frankfurt 1960, S. 249f)
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