AUSTERLITZ
Er mochte seine Vornamen nicht, Winfried und Georg würden ihn an die Nazis erinnern, deshalb benutzte der 2001 verstorbene Schriftsteller lieber W. G. Sebald als Autorenname, so auch im Prosawerk «Austerlitz», das in seinem Todesjahr erschien. Ein Buch, das sich literarisch allen Zuordnungen entzieht, weder Roman ist noch Essay oder Biografie, aber auch keine Dokumentation, obwohl die vielen exakt an der richtigen Stelle in den Text eingefügten Fotos das suggerieren. In Deutschland erst Mitte der neunziger Jahre entdeckt, gelangte der Autor besonders im englischen Sprachraum schnell zu großer Popularität, die BBC wählte «Austerlitz» sogar unter die zwanzig bedeutendsten literarischen Werke des neuen Jahrhunderts.
Jaques Austerlitz heißt der Protagonist, den ein namenloser Ich-Erzähler in der Bahnhofshalle von Antwerpen kennenlernt, ein seltsam gekleideter junger Mann, der unentwegt beschäftigt ist mit Notizen, der auch immer wieder mit seiner Ensign Rollfilmkamera fotografiert. Der Zufall führt sie noch mehrmals zusammen, und Austerlitz beginnt, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Als kleiner Junge sei er Anfang der vierziger Jahre als jüdisches Flüchtlingskind nach Wales gekommen und dort von einem gestrengen Dorfprediger und seiner Frau großgezogen worden, freudlose Zieheltern, die seine einsame Kindheit zum Trauma werden lassen. Im Internat war er denn auch der Einzige, der sich nicht auf die Ferien freute, weil er dann zurück musste ins ungeliebte Pfarrhaus. Später hatte er dreißig Jahre als Kunsthistoriker in London gearbeitet und irrt, seit er seine wahre Herkunft erfahren hat und auch seinen richtigen Namen, entwurzelt und rastlos durch Europa auf der Suche nach seiner im Holocaust verschwundenen Familie, was ihn schließlich über Prag nach Theresienstadt führt.
Sebald kontrastiert seine rückwärts erzählte Geschichte bis hin zum Grauen des Kriegsbeginns und dem als letzte Rettung veranlassten «Kindertransport» ins sichere Ausland immer wieder mit den Schönheiten der Natur, vertieft sich in detaillierte Beschreibungen von Bahnhöfen, Hotelhallen, Justizpalästen oder Befestigungsanlagen, kritisiert aber auch vehement den architektonischen Wahnsinn der neuen «Bibliothèque nationale de France» in Paris. Am Einzelschicksal des Titelhelden spiegelt sich schemenhaft das historische Geschehen, verdeutlicht sich das Unfassbare an dem ganz individuellen Betroffensein. Bewundernswert klar hat der Autor die Persönlichkeitskrise seines Helden herausgearbeitet, die so weit geht, dass er irgendwann nicht mehr schreiben kann, später dann auch nicht mehr lesen, dass er von Schlaflosigkeit gepeinigt in Depression verfällt. Lebensfreude ist ihm fremd, die Bekanntschaft mit Marie, die sich rührend um ihn kümmert, führt ins Leere seinetwegen, er scheint zu jeder Art von Bindung unfähig.
Nun ist das nicht gerade eine neue Herangehensweise an ein ebenfalls nicht gerade neues Thema. Der fiktive Lebensbericht wird in Sebalds melancholischem Buch in einem dem 19ten Jahrhundert entstammenden Idiom entwickelt, das angenehm zu lesen ist, wortgewaltig, kunstvoll gebaut, gleichwohl aber auch recht aufgesetzt wirkend, ein überheblicher Gelehrtenton, der da angeschlagen wird. Äußerst manieriert erscheinen mir zudem die ineinander verschachtelten Erzählebenen, ohne Anführungszeichen wird fast komplett in direkter Rede erzählt, an die zu erinnern nun ständig «sagte Austerlitz» eingeschoben wird, was in der dritten Ebene dann unfreiwillig komisch wirkt, wenn beispielsweise immer wieder«..., sagte Vĕra, sagte Austerlitz, ...» eingefügt ist. Ein mir fragwürdig erscheinendes Stilelement Sebalds, welches seine Thematik keinesfalls erfordert. Davon abgesehen ein berührendes, nachdenklich machendes Buch, das ziemlich abrupt endet in der Festung Breendonk, ein ehemaliges SS-Verlies, wo der Ich-Erzähler, am Wassergraben sitzend, Dan Jacobsons «Heshel’s Kingdom» liest, auch dies eine Spurensuche zurück in die Zeiten des Holocaust.
3* lesenswert - Bories vom Berg - 19. Januar 2016
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