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LUTZ SEILER

 

KRUSO

 

Magischer Realismus

 

Sein Debüt als Romancier hat Lutz Seiler mit einem Schlage bekannt gemacht, «Kruso» wurde mit dem deutschen Buchpreis 2014 geehrt, und auch das Feuilleton war unisono voll des Lobes. Nun beschert ein derartiger Medienwirbel nicht nur hohe Auflagen, er sorgt auch dafür, dass der preisgekrönte Roman, - eines bis dato als Epiker kaum bekannten Autors zudem -, nun plötzlich einen sehr großen Leserkreis erreicht. Zu groß scheinbar, denn wie die Rezeption des Buches zeigt, sind viele Leser darunter, die mit dem Roman offensichtlich überfordert sind, die hohe Zahl negativer Laienkritiken ist jedenfalls ein unübersehbares Indiz dafür. Umso mehr ist deshalb die Entschlossenheit der diesjährigen Buchpreis-Jury zu loben, unbeirrt auch heuer wieder ein literarisch hochstehendes, ambitioniertes Werk auszuzeichnen.

 

Wenige Tage nach der Inthronisierung eines «Linken» zum thüringischen Ministerpräsidenten ist die DDR-Vergangenheit derzeit Thema vieler Diskussionen. Seilers Geschichte ereignet sich während der letzten Monate dieses üblen Unrechtsregimes, sie liefert fernab der Politik ein beklemmendes Bild der unsäglichen Bedingungen, unter denen die Menschen dort jahrzehntelang gelitten haben, unfrei in einem Riesengefängnis lebend. Hiddensee, die Insel in der Ostsee, kaum fünfzig Kilometer von der verlockenden Küste Dänemarks entfernt, ist als Schauplatz des Romans ein geheimer Fluchtpunkt von Aussteigern, Gestrandeten, Verzweifelten. Aus eigenem Erleben schöpfend schildert der Autor, wie sein Protagonist Ed, nach dem Unfalltod seiner Freundin völlig aus der Bahn geworfen, dort in der Touristen-Gaststätte «Zum Klausner» als Saisonkraft unterkommt und schon bald Teil einer verschworenen Gemeinschaft wird. Sein Mentor ist Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, Spiritus Rector dieser exotischen Kaste von Intellektuellen, die nicht ins sozialistische System passen, die ihren ganz eigenen Regeln und Wertvorstellungen folgen. Die zwölfköpfige Mannschaft im systemfernen Refugium des Klausners erscheint wie ein aberwitziges Panoptikum von wundervoll beschriebenen, ebenso markanten wie sympathischen Figuren, allesamt Gestrandete auf einer Arche namens Hiddensee, dem vermeintlichen Schlupfloch in die Freiheit.

 

Seilers Robinsonade währte, anders als bei Defoe, nur wenige Sommermonate bis zur sogenannten Wende im November 1989. Die politischen Ereignisse dieser Zeit sind im Roman weitgehend ausgeblendet, sie klingen nur im Hintergrund an, aus dem Lautsprecher der Viola nämlich, jenem permanent eingeschalteten Radioapparat, aus dem rund um die Uhr das Programm des Deutschlandfunks erschallt. Die Ritter der Klausner-Tafelrunde versammeln sich täglich um sieben Uhr früh zum gemeinsamen Frühstück am Persotisch, dessen zentrale Rolle im Roman der Autor durch eine beigefügte Handzeichnung am Ende des Buches betont. Nach und nach allerdings lichten sich dort die Reihen, verschwindet spurlos einer nach dem anderen, der Untergang des politischen Systems wird hier gekonnt am Exodus der Saisonkräfte gespiegelt. Bis schließlich nur noch Ed übrig bleibt, und als der das seit Tagen defekte Radio wieder repariert hatte, wusste er eine Weile lang nicht, ob er begriff, was er da hörte: «Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen».

 

Mich hat die eigenständige, poetische Erzählform Seilers unwillkürlich an James Joyce erinnert. Der magische Realismus des Romans ignoriert die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Mythos, lässt Fakten und Irreales gleichberechtigt nebeneinander bestehen, kombiniert sie meisterhaft, ein Märchen für Erwachsene. In einem beklemmenden Epilog berichtet Ed als Ich-Erzähler von seinen hartnäckig verfolgten Recherchen nach den verschollenen Flüchtlingen, nach den unbekannten Toten, denen er damit ein Denkmal setzen will. Das ist spannend zu lesen wie ein Krimi und lässt den Leser tief betroffen zurück. Dieser grandiose Roman hat in vielerlei Hinsicht das Zeug dazu, ein Klassiker zu werden in der deutschsprachigen Literatur.

 

5* erstklassig - Bories vom Berg - 10. Dezember 2014

 

 

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