CLEMENS
J. SETZ
DIE LIEBE ZUR
ZEIT
DES
MAHLSTÄDTER KINDES
Überambitioniert,
aber gekonnt geschrieben
Mit seinem 18 Geschichten enthaltenden Erzählband
unter dem altmodisch klingenden Titel «Die Liebe zur Zeit des
Mahlstädter Kindes» hat der damals 29jährige, österreichische
Schriftsteller Clemens J. Setz den Preis der Leipziger Buchmesse für
Belletristik des Jahres 2011 erhalten. Den Ausschlag für die
Entscheidung der Jury gab, wie es in ihrer Begründung hieß, «die
Eigenwilligkeit der Sprache, die Kühnheit der Konstruktion und die
Konsequenz des Konzepts, das zu originellen wie unheimlichen
Geschichten führte». Es sind, ganz im Stil der Postmoderne
geschrieben und damit entfernt an David Foster Wallace erinnernd,
nicht nur unterschiedlich lange, sondern auch thematisch völlig
inhomogene literarische Vignetten voller Tristesse und
existenzieller Verlorenheit.
Gleich zu Beginn weist Clemens J. Setz sich in
der ersten Geschichte unter dem Titel «Milchglas» als präziser
Beobachter aus, der voller Empathie einen jugendlichen Ich-Erzähler
die fatalsten Begebenheiten an den trostlosesten Orten einfühlsam
schildern lässt. Ganz ähnlich geht es in der zweiten Geschichte zu,
wo unter dem Titel «Die Waage» von einer Hausgemeinschaft erzählt
wird, deren diffizile Verbindungen untereinander der Autor ganz ohne
Häme mit psychologischem Feinsinn offenlegt. In der nächsten
Geschichte ist von einer unheimlichen Seuche die Rede, die anfangs
nur die Visitenkarten einer Angestellten mit ekligen Blasen befällt
und später epidemieartig weiter um sich greift. Ziemlich grausig ist
die vierte Geschichte, in der die «Eltern von Hänsel und Gretel»
nachts genüsslich Sex haben, bevor sie dann endgültig beschließen,
ihre Kinder am nächsten Morgen im finsteren Wald auszusetzen.
Psychologisch skurril wird es, wenn junge Männer
sich in der Geschichte «Mütter» hausfraulich verkleidete Nutten
gegen Entgelt als biedere Muttis ins Haus holen, um wenigstens gegen
Bezahlung durch sie ein Gefühl der Geborgenheit zu bekommen. Ähnlich
einsam ist auch eine Frau, die an
Sozialphobie leidet, in der Kabine eines Riesenrades wohnt
und dort partout nicht mehr heraus kommen will. In der Mitte des
Erzählbandes taucht in postmoderner Manier unter dem Titel «Das
Herzstück der Sammlung» in einem Literaturarchiv überraschend ein
weißhaariger, greiser Schriftsteller namens Clemens J. Setz auf, der
in einem Gitterbett liegt. Und dort befindet sich auch, hört, hört,
ein ganzes Regal voller später Werke von ihm. Bezeichnend für die
Motivwahl des Autors ist vor allem die im Buch als letzte erzählte,
titelgebende Geschichte von der Skulptur eines großen Kindes, die
eines Tages plötzlich am Ende einer Sackgasse steht. Unvollendet,
geformt aus weichem, immer feuchtem Lehm, hat der Künstler sein
plastisches Werk dem kunstbegeisterten Publikum zur Vollendung
überlassen. Während es zunächst gebührend gefeiert wird, verlieren
die Bewohner später jede Kontrolle über sich und prügeln voller Wut
auf das «Mahlstädter Kind» ein, sie verlieren dabei sogar fast ihren
Verstand.
Neben derart vergleichsweise Harmlosem finden
sich allerdings auch recht drastische Beschreibungen von sexueller
Gewalt, die in abstoßenden, eiskalt ausgemalten Gewaltszenen
zuweilen sogar pathologische Züge annimmt. Äußerst brutal wird da
ein Mädchen entjungfert, werden Kinder misshandelt und Männer
sexuell gedemütigt, wird eine Prostituierte von einem sadistischen
Ehepaar gequält oder eine Frau von ihrem Freund in einen Käfig
gesperrt. Mit seinen vielen intertextuellen Bezügen ist dieser
Sammelband auch ein Buch über Literatur, ein gelungenes Protokoll
der Gegenwart zudem und eine Satire über den Wissenschafts-Betrieb.
Nicht Alles aber ist überzeugend, und Etliches ist belanglos. Vieles
auch wirkt allzu konstruiert und motivisch überfrachtet, vom
Elefantenmensch über das Napalm-Mädchen in Vietnam und den
Lampenschirm aus Buchenwald bis hin zur musikalischen Hölle von
Hieronymus Bosch. Kurzum: überambitioniert, teilweise
schwerverdaulich, aber gekonnt geschrieben!
3* lesenswert - Bories
vom Berg - 18. Januar 2025
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