JOHN STEINBECK
TORTILLA FLAT
Geschichte einer Naturgottheit
Die Ritter der Tafelrunde haben Pate gestanden für
diesen Schelmenroman des amerikanischen Nobelpreisträgers John Steinbeck, wie
uns das Vorwort erläutert, eine Thematik, die dem Autor jedenfalls sehr vertraut
war, hat er doch, viel später allerdings, sogar eine moderne Übersetzung der
Sage um König Artus geschrieben. Auch in «Tortilla Flat» geht es um solch eine
mystisch erhobene, zentrale Figur, die hier jedoch aus einem ganz anderen Milieu
stammt, welches man nach heutigem Sprachgebrauch als Prekariat bezeichnen würde.
Danny, der Held des Romans, ist ein bettelarmer, kleinkrimineller
Lebenskünstler. Um ihn scharrt sich, wie in der Artussage, eine wachsende Gruppe
von Gleichgesinnten, allesamt Landstreicher und Tagediebe wie er. Sie sind
Brüder im Geiste sozusagen, in den Tag hinein lebende Nichtstuer, die
Leichtigkeit des Seins genießend mit ihrer naiven Zuversicht.
Ort der Handlung ist die namensgebende Siedlung oberhalb von
Monterey in Kalifornien, in der nach dem Ersten Weltkrieg unter armseligsten
Bedingungen die Paisanos leben, eine ethnisch gemischte Gruppe alteingesessener
Bewohner dieser kleinen Küstenstadt, und Tortilla Flat ist ein Slum an deren
Rande, ohne feste Straßen, Wasser und Strom. Als Dannys Großvater stirbt, wird
aus dem obdachlosen Habenichts über Nacht der Eigentümer zweier baufälliger
Holzhütten. Zögernd nur entschließt er sich, eine dieser alten Hütten zu
beziehen, und mit dem neuen Besitz ändert sich nun schlagartig sein Leben. Er
erlebt das jedoch eher als Last denn als Bereicherung. Schließlich vermietet er
eine der Hütten an seinen besten Freund, obwohl klar ist, dass er nie auch nur
einen Cent Miete erhalten wird. Und nach und nach kommen immer neue, skurrile
Mitbewohner hinzu.
In einem lose verbundenen Zyklus von siebzehn Geschichten
erlebt der Leser den alltäglichen Kampf dieser bunten Clique ums Essen und
Trinken. Bei Letzterem handelt es sich fast ausschließlich um Wein, der, aller
Prohibition zum Trotz, in Mengeneinheiten von Gallonen konsumiert wird von der
trinkfesten Bruderschaft. Nur im äußersten Notfall verdingt sich mal einer von
ihnen als Tagelöhner, ansonsten lebt man vom listenreichen Schnorren oder
kleineren Diebstählen. Am liebsten sitzt man müßig in der Sonne und erzählt sich
die neuesten Geschichten, den Tratsch und Klatsch der kleinen, pazifischen
Küstenstadt. Und auch für die sexuellen Bedürfnisse ist gesorgt, es findet sich
immer eine Frau, ob verheiratet oder nicht, wobei manche Schwangere später nicht
mehr zu sagen vermag, wer von dieser Clique denn als Vater in Frage käme.
Steinbeck wäre kein Nordamerikaner, wenn er diesen Aspekt menschlicher Existenz
nicht derart verklausuliert erzählen würde, dass man entsprechende Textpassagen
wortwörtlich in jedem Märchenbuch abdrucken könnte.
Mit der Burleske um die «Naturgottheit» Danny will Steinbeck,
wie es in seinem Vorwort heißt, «jetzt und für immer das spöttische Lächeln von
den Lippen säuerlicher Gelehrter verbannen». Man darf den Roman nicht kurzerhand
als Hymne auf das einfache Leben interpretieren, er ist eher als Gegenentwurf
zum Tanz ums Goldene Kalb zu sehen, als Abgesang auf eine Gesellschaft von
Konsumidioten mit ausschließlicher Fixierung auf alles Materielle, in
Geldeinheiten Messbare, wo jedweder Müßiggang und eine fatalistische
Genügsamkeit von vornherein suspekt sind. Wunderbar plastisch sind Steinbecks
Figuren dieser gesellschaftlichen Randgruppe beschrieben, und er lässt sie
äußerst schlitzohrig agieren, obwohl sie immer auch ein wenig trottelig wirken,
auf ihre spezielle Art aber grundehrlich sind. Das ist oft ziemlich verblüffend,
vielleicht jedoch gerade dadurch aber sehr amüsant zu lesen, man kommt aus dem
Schmunzeln nicht mehr heraus. Und Dannys Tod schließlich und seine Beerdigung
wird liebevoll ironisch zu einem grandiosen Ereignis verklärt, das einen Platz
in der Weltgeschichte verdiene, zumindest aber in der von Monterey.
3*
lesenswert - Bories vom Berg - 03. Februar 2014
© Copyright 2014
|