MARLENE STREERUWITZ
VERFÜHRUNGEN
Für die Fragen- und Denkbereiten
Schon mit ihrem 1996 erschienenen Debütroman «Verführungen»
hat die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz eine ganz
eigenständige Poetik etabliert, an der man ihre Texte unschwer erkennen kann.
Prägend für sie war nach eigenem Bekunden Faulkners Roman «Schall und Wahn», ein
Schlüsselerlebnis literarischer Dekonstruktion. Die davon inspirierte,
eigenwillige Syntax der nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch streitbaren
Autorin kann als ihr ureigenes literarisches Markenzeichen gelten. Als
Zielgruppe ihrer stets infrage stellenden Literatur wolle sie die etwa zehn
Prozent «Fragen- und Denkbereiten» erreichen, mit ihnen möchte sie «ins Gespräch
kommen». Was nach Gutenbergs Erfindung ja nichts anderes bedeutet, als von ihnen
gelesen zu werden. Also los!
Im vorliegenden Roman bezieht sich das literarische
Infragestellen auf den trostlosen Alltag der Protagonistin Helene, einer
dreißigjährigen Mutter von zwei kleinen, schulpflichtigen Töchtern, die von
ihrem Ehemann verlassen wurde. Als Alleinerziehende kämpft sie einen einsamen
Kampf mit widrigen Lebensumständen, zu denen die prekäre Teilzeitbeschäftigung
in einer kleinen PR-Agentur ebenso gehört wie die ständigen Geldnöte, ihr
bösartiger Exmann zahlt nämlich keinen Unterhalt, auch für die Kinder nicht. Die
gleich nebenan wohnende Schwiegermutter hilft ihr, so gut sie kann, versorgt
ihre beiden Enkeltöchter. Ihre beste Freundin Püppi, ebenfalls allein erziehend,
lebt im Chaos und verfällt immer mehr dem Alkohol, sie ist eher Belastung als
Hilfe. Helene ist oft so verzweifelt, dass sie an Suizid denkt, ihr desaströser
Seelenzustand zeitigt sogar körperliche Beschwerden. Sie ist oft zum Umfallen
müde, möchte einfach nur daliegen, nichts mehr sehen und hören. Als der Musiker
Henryk in ihr Leben tritt, entsteht aus dem anfangs prickelnden,
leidenschaftlichen Verhältnis bald eine weitere Enttäuschung. Er erweist sich
nämlich als undurchschaubar, unzuverlässig, verschwindet oft für längere Zeit
ohne jede Nachricht, der Mann ist ein weiterer Alptraum in ihrem ohnehin schon
beschwerlichen, freudlosen Alltag. Immer wieder entflieht Helene für kurze Zeit
in die Natur, fährt mit dem Auto ins Grüne, sucht im Alleinsein fernab vom
geschäftigen Wien neue Kraft zu schöpfen für den Lebenskampf, in den sie sich
vehement immer wieder von neuem stürzt, stürzen muss.
«Das reale Frauenleben hat in der Kunst keinen Platz, und
diese humorigen Bücher für den Strand schwindeln sich ununterbrochen über diese
Tatsache hinweg. Der Alltag der Frauen ist in Deutschland nicht genug
literaturfähig. Ich will mit meinen Texten dieses Tabu brechen.» Streeruwitz tut
dies in einer stakkatoartigen, adjektivarmen, spröden Sprache, die ihre
engagiert feministische Thematik wirkungsvoll unterstreicht mit kurzen, meist
kommalosen Hauptsätzen, oft sogar nur rudimentären Satztorsos. Sie erzählt ihre
zeitlich etwa sieben Monate bis zur Deutschen Wiedervereinigung 1989 umfassende
Geschichte strikt chronologisch, in episodenhaft aneinander gereihte, für sich
genommen banale Einzelszenen gegliedert. Dabei benutzt sie als Stilmittel häufig
den inneren Monolog und bleibt als auktoriale Erzählerin nicht erkennbar im
Hintergrund.
Das Leitthema dieses Romans ist die verzweifelte Ohnmacht
einer Frau und Mutter in einer männlich dominierten Gesellschaft, hier von der
Autorin aus einer sehr zugespitzt feministischen Perspektive erzählt. Die Männer
machen dabei allesamt keine gute Figur, sind jedenfalls wenig hilfreich, eher
ursächlich für Helenes ermüdenden, zermürbenden Lebenskampf, für den eine
strukturierende Moral oder Werteordnung nicht zu existieren scheint. Ein Roman
zum Weiterdenken also, gekonnt und ambitioniert geschrieben zudem. Er endet
ziemlich abrupt - und unerwartet versöhnlich - im Warteraum des Arbeitsamtes:
«Zuerst würde sie den Computerkurs machen. Und dann war Weihnachten. Und dann.
Im nächsten Jahr würde alles besser werden. Helene wurde aufgerufen».
4*
erfreulich - Bories vom Berg - 8. März 2017
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